Die Hyperion-Gesänge
Generationen erhalten werden, selbst wenn sie sich in der Zeit rückwärtsbewegen. Es wäre ein Verbrechen interplanetaren Ausmaßes, wenn Oberst Fedmahn Kassad sein eigenes Leben über den Erhalt so kostbarer Artefakte stellen würde.
»Ach, scheiß drauf!«, flüstert Kassad und rollt sich in Feuerstellung.
Er pumpt Laserfeuer über die Oberfläche des Monolithen, bis Kristall schmilzt und zerfließt. Er donnert in Zehnmeterintervallen hochexplosive Geschosse in das Ding, wobei er mit den oberen Etagen anfängt. Tausende Scherben spiegelnden Metalls fliegen in die Nacht, taumeln in Zeitlupe auf den Boden des Tals und hinterlassen Lücken, so häßlich wie fehlende Zähne, im Antlitz des Bauwerks. Kassad schaltet wieder um auf breitgefächertes kohärentes Licht und bestreicht das Innere durch die Öffnungen; er grinst, als auf mehreren Etagen etwas in Flammen aufgeht. Kassad feuert Hees – Hochenergie-Elektronenstrahlen –, die den Monolithen durchschlagen und makellos zylindrische, vierzehn Zentimeter durchmessende Tunnel einen halben Kilometer ins Felsgestein der Talwände bohren. Er feuert Kanistergranaten, die zu Zehntausenden von Nadelsplittern explodieren, nachdem sie die Kristallfassade des Monolithen durchdrungen haben. Er stößt wahllos Laserpulsbündel aus, die alles und jeden blenden, das von dem Gebäude in seine Richtung blickt. Er feuert auf Körperwärme programmierte Pfeile in jede Lücke, die ihm die zertrümmerte Struktur darbietet.
Kassad rollt sich in den Eingang des Jadegrabs zurück und klappt das Visier hoch. Flammen des brennenden Turms spiegeln sich in Tausenden von Kristallsplittern im ganzen Tal.
Rauch steigt in eine plötzlich windstille Nacht empor. Karmesinrote Dünen leuchten in den Flammen. Die Luft ist plötzlich vom Klingeln eines Windmobiles erfüllt, während weitere Kristalltrümmer abbrechen und an langen Fäden geschmolzenen Glases herabsinken.
Kassad stößt leere Energiemagazine und Munitionsgurte aus, ersetzt sie mit Nachschub von seinem Gürtel, dreht sich auf den Rücken und atmet die kühlere Luft ein, die zur offenen Tür hereindringt. Er gibt sich nicht der Illusion hin, dass er den Heckenschützen getötet hat.
»Moneta«, flüstert Fedmahn Kassad. Er schließt eine Sekunde lang die Augen, bevor er weitergeht.
Moneta war zum ersten Mal eines Morgens Ende Oktober im Jahre 1415 n. Chr. bei Agincourt zu Kassad gekommen. Die Leichen gefallener Engländer und Franzosen lagen auf dem Schlachtfeld verstreut; im Wald hatte ein einziger bedrohlicher Feind gelauert, und dieser Feind wäre im Kampf mit Kassad der Sieger geblieben, hätte ihm nicht die große Frau mit dem kurzen dunklen Haar und den Augen, die er nie vergessen sollte, geholfen. Nach ihrem gemeinsamen Sieg hatten Kassad und die Frau, vom Blut des getöteten Ritters besudelt, im Wald miteinander kopuliert.
Das Historisch-Taktische Network der Militärakademie Olympus bot eine Stimsim-Erfahrung, die der Wirklichkeit näher kam als alles, was Zivilisten je erleben konnten, aber die Phantomgeliebte Moneta war kein Artefakt des Stimsim. Im Laufe der Jahre war sie immer wieder zu ihm gekommen, als Kassad Kadett der Militärakademie war, und auch später, in den erschöpften, drogenrauschähnlichen Träumen nach der Katharsis, die unweigerlich jedem wirklichen Kampf folgten.
Fedmahn Kassad und der Schatten namens Moneta hatten
sich in dunklen Ecken von Schlachtfeldern geliebt, die von Antietam bis Qom-Riyadh reichten. Ohne das Wissen anderer und für die anderen Stimsimkadetten unsichtbar, war Moneta in tropischen Nächten während der Wache zu ihm gekommen und an eiskalten Tagen während der Belagerung in den russischen Steppen. Sie hatten sich flüsternd ihre Leidenschaft in Nächten nach wahrhaftigen Siegen auf den Inselschlachtfeldern von Maui-Covenant geschworen und auch während der Qual seiner körperlichen Rekonstruktion, nachdem er auf Süd-Bressia beinahe wirklich gestorben wäre. Und Moneta war stets seine einzige Liebe gewesen – eine übermächtige Leidenschaft, in die sich der Geruch von Blut und Dynamit mischte, von Napalm, weichen Lippen und ionisiertem Fleisch.
Dann kam Hyperion.
Oberst Fedmahn Kassads Lazarettschiff wurde von Schlachtschiffen der Ousters angegriffen, als es aus dem Bressia-System zurückkehrte. Nur Kassad hatte überlebt – er hatte ein Schiff der Ousters gestohlen und damit eine Bruchlandung auf Hyperion gemacht. Auf dem Kontinent Equus. In den hochgelegenen
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