Die Hyperion-Gesänge
so kostspielig waren, dass sie keine Namen mehr hatten. Das Erstaunliche war, Tyrena Wingreen-Feif hielt das gesellschaftliche Leben seit Jahrzehnten in eisernem Griff, und es sah nicht aus, als würde sie den lockern. Mit jedem zwanzig Jahre währenden Schläfchen wuchs ihr Vermögen und ihr legendärer Ruf.
»Leben Sie immer noch auf diesem langweiligen kleinen Planeten, den ich letztes Jahr besucht habe?«, fragte sie.
»Esperance«, sagte ich, wohl wissend, dass ihr genauestens bekannt war, wo jeder bedeutende Künstler auf dieser unbedeutenden Welt zu Hause war. »Nein, ich scheine meinen Wohnsitz vorübergehend nach TC 2 verlegt zu haben.«
M. Wingreen-Feif verzog das Gesicht. Ich bekam am Rande mit, dass eine Gruppe von acht bis zehn Anhängern eingehend zusah und sich fragte, wer dieser dreiste junge Mann war, der sich in ihren innersten Kreis gewagt hatte. »Wie gräßlichfür Sie«, sagte Tyrena, »dass Sie sich auf einer Welt der Geschäftsleute und Bürokraten langweilen müssen. Ich hoffe, sie lassen Sie bald wieder gehen!«
Ich hob mein Glas und prostete ihr zu. »Ich wollte Sie fragen« , sagte ich, »waren Sie nicht die Lektorin von Martin Silenus?«
Die Kaiserinwitwe ließ das Glas sinken und maß mich mit einem finsteren Blick. Einen Augenblick lang stellte ich mir Meina Gladstone und diese Frau in einem Kampf der Willenskraft vor; ich erschauerte und wartete auf ihre Antwort. »Mein liebster Junge«, sagte sie, »das ist so eine uralte Geschichte. Warum zerbrechen Sie sich Ihren hübschen jungen Kopf über derlei prähistorischem Firlefanz?«
»Mich interessiert Silenus«, sagte ich. »Seine Gedichte. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie noch Kontakt mit ihm haben.«
»Joseph, Joseph, Joseph«, zischelte M. Wingreen-Feif. »Seit Jahrzehnten hat niemand mehr etwas von dem armen Martin gehört. Himmel, der arme Mann muss ja steinalt sein!«
Ich wies Tyrena nicht darauf hin, dass der Dichter viel jünger sein musste als sie, wenn sie seine Lektorin gewesen war.
»Seltsam, dass Sie ihn erwähnen«, fuhr sie fort. »Transline, meine alte Firma, hat kürzlich verlauten lassen, dass sie überlegen, ob sie nicht einen Teil von Martins Werk neu herausbringen möchten. Ich weiß aber nicht, ob sie je mit seinem Estate Verbindung aufgenommen haben.«
»Seine Sterbende-Erde -Bücher?«, fragte ich und dachte an die nostalgischen Bücher um die Alte Erde, die sich vor so langer Zeit so ausgezeichnet verkauft hatten.
»Nein, seltsamerweise nicht. Ich glaube, sie haben sich
überlegt, ob sie seine Gesänge drucken sollen«, sagte Tyrena. Sie lachte und steckte ein Cannabisstäbchen in ein langes Mundstück aus Ebenholz. Einer aus ihrem Gefolge beeilte sich, es anzuzünden. »Eine seltsame Wahl«, sagte sie, »wenn man bedenkt, dass niemand die Gesänge gelesen hat, als der arme Martin noch lebte. Nun, nichts ist einer Künstlerkarriere dienlicher als ein wenig Tod und Geheimnis, das habe ich immer gesagt.« Sie lachte – kurze, schrille Geräusche wie bröckelnder Fels. Ein halbes Dutzend aus ihrem Kreis lachte mit ihr.
»Sie sollten sich lieber vergewissern, ob Silenus wirklich tot ist«, sagte ich. »Die Cantos wären eine bessere Lektüre, wenn sie vollständig wären.«
Tyrena Wingreen-Feif sah mich seltsam an, die Glocke zum Essen ertönte durch das wogende Blattwerk, Spenser Reynolds bot der Grande Dame den Arm an, und während die Leute die Treppe hinaufströmten, trank ich den letzten Schluck, stellte das leere Glas aufs Geländer und trottete mit der Herde.
Die Präsidentin und ihre Gefolgschaft trafen gleich nachdem wir uns gesetzt hatten ein, und Gladstone hielt eine kurze Ansprache, wahrscheinlich ihre zwanzigste an diesem Tag, die Rede vor dem Senat und dem Netz nicht mitgerechnet. Der eigentliche Grund für das Essen an diesem Abend war gewesen, Mittel für das Hilfsprogramm Armaghast aufzubringen, aber Gladstones Worte wandten sich bald dem Krieg und der Notwendigkeit zu, ihn mit aller Härte zu führen, während Führer von überall aus dem Netz Einigkeit demonstrierten.
Ich sah über das Geländer, während sie sprach. Der zitronengelbe Himmel war einem gedämpften Safranton gewichen und danach rasch zu einer so vollen tropischen Dämmerung verblasst, dass es aussah, als wäre ein dicker blauer Vorhang vor den Himmel gezogen worden. God’s Grove hatte sechs
kleine Monde; fünf davon waren zu sehen, vier rasten über den Himmel, während ich zusah, wie die Sterne herauskamen.
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