Die Hyperion-Gesänge
Die Luft hier war reich an Sauerstoff, fast berauschend, und brachte den vollen Geruch von feuchter Vegetation mit sich, der mich an den Besuch auf Hyperion am Morgen erinnerte. Aber auf God’s Grove wurden keine EMVs oder Gleiter oder Flugmaschinen jedweder Art geduldet, petrochemische Emissionen oder die Kielwasser von Fusionszellen hatten diesen Himmel nie beschmutzt, und da Städte, Straßen und elektrisches Licht fehlten, wirkten die Sterne so hell, dass sie es mit den Papierlampions und Leuchtkugeln aufnehmen konnten, die an Zweigen und Pfosten hingen.
Nach Sonnenuntergang war wieder leichter Wind aufgekommen, jetzt schwankte der ganze Baum ein wenig, die breite Plattform bewegte sich sanft wie ein Schiff bei ruhigem Seegang, Stützen und Verstrebungen aus Wehrholz und Muirholz knirschten leise in den sanften Böen. Ich konnte Licht zwischen fernen Baumkronen leuchten sehen und wusste, dass viele aus »Zimmern« kamen – ein paar von Tausenden, die man von den Templern mieten konnte –, die Multiweltbehausungen mit Farcasterportalen angeschlossen werden konnten, so man die Millionen besaß, dass man sich derlei Extravaganzen leisten konnte.
Die Tempelritter mühten sich nicht mit den tagtäglichen Verrichtungen des Treetops oder der Makler ab, sie stellten lediglich strikte Vorschriften für derartige Unternehmen fest, waren aber Nutznießer der vielen Millionen Mark, die die Geschäfte einbrachten. Ich musste an ihr interstellares Kreuzfahrtschiff denken, die Yggdrasil , ein kilometerlanger Baum aus dem heiligsten Wald des Planeten, der von den Singularitätsgeneratoren des Hawking-Antriebs angetrieben und von den kompliziertesten Kraftfeldern und Erg-Schirmen geschützt wurde, die man sich nur vorstellen konnte. Auf unerklärliche
Weise hatten die Tempelritter irgendwie zugestimmt, die Yggdrasil für ein Evakuierungsunternehmen herzugeben, das lediglich eine Tarnung für die Invasionsstreitkräfte von FORCE war.
Und wie es so gehen kann, wenn man unschätzbar wertvolle Dinge Risiken aussetzt, war die Yggdrasil im Orbit um Hyperion zerstört worden, nur war noch nicht geklärt, ob von den Ousters oder einer anderen Kraft. Wie hatten die Tempelritter reagiert? Welches erdenkliche Ziel konnte sie bewogen haben, eines der vier existierenden Baumschiffe aufs Spiel zu setzen? Und warum war ihr Baumschiffkapitän – Het Masteen – als einer der sieben Pilger zum Shrike auserwählt worden und dann verschwunden, ehe der Windwagen den Bridle Range an den Ufern des Grasmeers erreicht hatte?
Es waren zu viele Fragen offen, und der Krieg war erst wenige Tage alt.
Meina Gladstone hatte ihre Ansprache beendet und beschwor uns alle, das Essen zu genießen. Ich applaudierte höflich, winkte einem Kellner und ließ mein Weinglas füllen. Der erste Gang bestand aus einem klassischen Salat à la Kaiserzeit, über den ich mich begeistert hermachte. Mir wurde klar, dass ich seit dem Frühstück am Morgen nichts gegessen hatte. Während ich ein Büschel Brunnenkresse aufspießte, erinnerte ich mich an Generalgouverneur Theo Lane, der Speck und Eier und Laugenhörnchen gegessen hatte, während Nieselregen vom lapislazulifarbenen Himmel von Hyperion gefallen war. War das ein Traum gewesen?
»Was meinen Sie zum Krieg, M. Severn?«, fragte Reynolds, der Performancekünstler. Er saß mehrere Stühle von mir entfernt auf der anderen Seite der breiten Tafel, aber seine Stimme drang laut und deutlich herüber. Ich sah, wie Tyrena, die drei Plätze rechts von mir saß, eine Braue hochzog.
»Was kann man schon zum Krieg meinen?«, sagte ich und
kostete wieder den Wein. Er war ziemlich gut, aber nichts im Netz kam meiner Erinnerung an französischen Bordeaux gleich. »Der Krieg verlangt nicht nach einem Urteil«, sagte ich, »lediglich nach dem Überleben.«
»Im Gegenteil«, sagte Reynolds, »der Krieg ist, wie so vieles, das die Menschheit seit der Hegira verfeinert hat, im Begriff, zu einer Kunstform zu werden.«
»Einer Kunstform«, seufzte eine Frau mit kurzgeschorenem kastanienfarbenem Haar. Die Datensphäre verriet mir, dass es sich um M. Sudette Chier handelte, die Frau von Senator Fjodor Kolchev und selbst eine ernstzunehmende politische Kraft. M. Chier trug ein blaues Kleid mit Goldlamé und drückte mit ihrer Miene gebanntes Interesse aus. »Krieg als Kunstform, M. Reynolds! Was für eine interessante Vorstellung!«
Spenser Reynolds war ein wenig kleiner als Netzdurchschnitt, aber weitaus hübscher. Sein Haar war
Weitere Kostenlose Bücher