Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
nicht zu sehen, aber die Lichter der Orbitalsiedlungen zogen über den Himmel wie ein endloser Reigen von Glühwürmchen.
    Gladstone saß auf der schmiedeeisernen Brücke beim Bach. »M. Severn«, sagte sie mit leiser Stimme, »danke, dass Sie zu mir gekommen sind. Ich muss mich entschuldigen, weil es so spät ist. Die Kabinettssitzung ist gerade zu Ende gegangen.«
    Ich sagte nichts und blieb stehen.
    »Ich wollte mich nach Ihrem Besuch auf Hyperion heute Morgen erkundigen.« Sie kicherte in der Dunkelheit. »Gestern morgen. Hatten Sie Eindrücke?«
    Ich fragte mich, was sie meinte. Ich vermutete, die Frau hatte einen unersättlichen Hunger nach Daten, so irrelevant sie auch sein mochten. »Ich habe jemanden getroffen«, sagte ich.
    »Oh?«
    »Ja, Dr. Melio Arundez. Er war … ist …«

    »Ein Freund von M. Weintraubs Tochter«, sprach Gladstone zu Ende. »Das Kind, das rückwärts altert. Haben Sie neue Erkenntnisse über ihren Zustand?«
    »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich habe heute Mittag ein kurzes Nickerchen gehalten, aber die Träume waren nur bruchstückhaft.«
    »Und was hat das Treffen mit Dr. Arundez gebracht?«
    Ich rieb mir das Kinn mit Fingern, die plötzlich kalt geworden waren. »Sein Forschungsteam wartet schon seit Monaten in der Hauptstadt«, sagte ich. »Sie könnten unsere einzige Hoffnung sein zu verstehen, was sich mit den Zeitgräbern abspielt. Und das Shrike …«
    »Unsere Vorherseher sagen, es ist wichtig, die Pilger in Ruhe zu lassen, bis ihre Rolle zu Ende gespielt ist«, sagte Gladstones Stimme in der Dunkelheit. Sie schien zur Seite zu sehen, zum Bach.
    Ich spürte plötzlich und unerklärlicherweise, wie mich Zorn ergriff. »Pater Hoyt ist tot, seine Rolle ist schon zu Ende gespielt« , sagte ich schneidender als beabsichtigt. »Sie hätten ihn retten können, wäre dem Schiff gestattet worden, zu den Pilgern zu fliegen. Arundez und seine Leute könnten das Baby – Rachel – vielleicht retten, auch wenn nur noch wenige Tage verbleiben.«
    »Weniger als drei Tage«, sagte Gladstone. »War noch etwas? Eindrücke vom Planeten oder Admiral Nashitas Flaggschiff, die Sie … interessant fanden?«
    Ich ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder. »Sie werden Arundez nicht gestatten, zu den Gräbern zu fliegen?«
    »Nein, jetzt nicht.«
    »Was ist mit der Evakuierung der Zivilisten von Hyperion, zumindest der Bürger der Hegemonie?«
    »Das ist zurzeit nicht möglich.«

    Ich wollte etwas sagen, beherrschte mich aber. Ich sah dahin, wo das Wasser unter der Brücke plätscherte.
    »Keine anderen Eindrücke, M. Severn?«
    »Nein.«
    »Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht und angenehme Träume. Morgen wird ein hektischer Tag werden, aber ich möchte mich irgendwann einmal mit Ihnen über die Träume unterhalten.«
    »Gute Nacht«, sagte ich, machte auf dem Absatz kehrt und ging rasch zu meinem Flügel des Regierungshauses zurück.
    In meinem dunklen Zimmer rief ich eine Sonate von Mozart ab und nahm drei Trisekobarbitale. Sie würden mich höchstwahrscheinlich in einen drogeninduzierten, traumlosen Schlaf versetzen, wo mich der Geist des toten Johnny Keats und seine noch geisterhafteren Pilger nicht finden konnten. Ich wollte Meina Gladstone enttäuschen – und dieser Gedanke machte mich nicht im Geringsten betroffen.
    Ich musste an Swifts Seefahrer Gulliver denken und den Ekel vor der Menschheit, den er nach seiner Rückkehr aus dem Land der intelligenten Pferde – der Houyhnhnms – empfand, einem Ekel vor seiner eigenen Spezies, der so schlimm wurde, dass er im Stall bei den Pferden schlafen musste, um sich von ihrem Geruch und ihrer Anwesenheit trösten zu lassen.
    Mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief, war: Zum Teufel mit Meina Gladstone, zum Teufel mit dem Krieg und zum Teufel mit dem Netz!
    Und zum Teufel mit den Träumen!

ZWEITER TEIL
    16
    Brawne Lamia schlief bis kurz vor der Dämmerung unruhig, und ihre Träume wurden von Bildern und Tönen von anderswo heimgesucht – halb gehörte und kaum verstandene Gespräche mit Meina Gladstone, ein Raum, der im Weltraum zu schweben schien, Männer und Frauen in Bewegung in einem Korridor, dessen Wände wie schlecht eingestellte Fatlineempfänger tuschelten –, und unter diesen Fieberträumen und wahllosen Bildfetzen lag das aufregende Gefühl, dass Johnny – ihr Johnny – so nahe war, so nahe. Lamia schrie im Schlaf auf, aber der Laut ging in den zufälligen Echos der abkühlenden Sphinx und

Weitere Kostenlose Bücher