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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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glaubten, dass diese Gräber wegen ihres primitiven Charakters die frühesten sein müssten«, sagte Sol, als sie die erste Höhle betraten und die Lichtkegel über Gestein gleiten ließen, in das Tausende unidentifizierbare Muster geschnitzt waren. Keine Höhle war tiefer als dreißig bis vierzig Meter. Jede hörte an einer Felsmauer auf, und weder Sonden noch Radar hatten jemals auch nur hinter einer eine Verlängerung aufspüren können.
    Nachdem sie aus dem dritten Höhlengrab herauskamen, setzten sich die Gruppenmitglieder in das bisschen Schatten, das sie finden konnten, und teilten sich Wasser und Proteinbiskuits aus Kassads zusätzlichen Feldrationen. Der Wind hatte wieder zugenommen, jetzt seufzte und flüsterte er durch Öffnungen im Felsgestein hoch über ihnen.
    »Wir werden ihn nicht finden«, sagte Martin Silenus. »Das verdammte Shrike hat ihn geholt.«

    Sol fütterte das Baby mit einer der letzten Säuglingsrationen. Obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, Rachel vor der Sonne zu schützen, während sie draußen gingen, hatte diese den Kopf des Babys rosa gefärbt. »Er könnte in einem der Gräber sein, die wir abgesucht haben«, sagte er, »wenn es Abschnitte gibt, die in einer anderen Zeitphase sind als wir. Das ist die Theorie von Arundez. Er sieht die Gräber als vierdimensionale Gebilde mit komplexen Falten in der Raum-Zeit.«
    »Klasse«, sagte Lamia. »Das heißt, selbst wenn Kassad hier ist, können wir ihn nicht sehen.«
    »Nun«, sagte der Konsul und erhob sich mit einem müden Seufzen, »bringen wir es wenigstens zu Ende. Es bleibt noch ein Grab.«
    Der Palast des Shrike lag einen Kilometer weiter im Innern des Tals, tiefer als die anderen und war hinter einer Biegung der Felswände verborgen. Das Gebilde war nicht groß, kleiner als das Jadegrab, aber seine komplexe Konstruktion – Flansche, Türme, Zinnen und Stützsäulen, die sich in kontrolliertem Chaos krümmten und wanden – ließ es größer wirken, als es war.
    Das Innere des Palastes bestand aus einer hallenden Kammer mit unregelmäßigem Fußboden aus Tausenden gekrümmten, verbundenen Segmenten, die Lamia an Rippen und die Wirbelsäule eines fossilen Tiers erinnerten. Fünfzehn Meter über ihnen durchzog ein Wirrwarr von verchromten »Schneiden« die Kuppel, die durch die Wände und gegeneinander verliefen und als Dornen mit Stahlspitzen über dem Gebilde aufragten. Das Material der Kuppel selbst war leicht milchig und verlieh dem mausoläumsähnlichen Innern einen trüben Schimmer.
    Lamia, Silenus, der Konsul, Weintraub und Duré, alle riefen sie nach Kassad, aber ihre Stimmen hallten und schallten vergebens.

    »Keine Spur von Kassad oder Het Masteen«, sagte der Konsul, als sie wieder herauskamen. »Vielleicht ist das das Muster  – jeder von uns verschwindet, bis nur noch einer übrigbleibt.«
    »Und wird diesem Letzten sein Wunsch erfüllt, wie es die Legende der Kirche des Shrike behauptet?«, fragte Brawne Lamia. Sie saß auf der Felssohle vor dem Palast des Shrike und ließ die kurzen Beine in der Luft baumeln.
    Paul Duré hob das Gesicht himmelwärts. »Ich kann nicht glauben, dass es Pater Hoyts Wunsch war zu sterben, damit ich wieder leben kann.«
    Martin Silenus sah blinzelnd zu dem Priester auf. »Und was wäre Ihr Wunsch, Padre?«
    Duré zögerte nicht. »Ich würde mir wünschen … beten … dass Gott die Geißel der beiden Obszönitäten – Krieg und Shrike – ein für alle Mal von der Menschheit nimmt.«
    Es folgte Schweigen, das der Nachmittagswind mit seinem fernen Seufzen und Stöhnen erfüllte. »Bis dahin«, sagte Brawne Lamia, »müssen wir etwas zu essen besorgen oder lernen, von Luft zu leben.«
    Duré nickte. »Warum haben Sie so wenig mitgebracht?«
    Martin Silenus lachte und sagte laut:
    »Nichts lag ihm an Wein, nichts lag ihm an Schorle,
Nichts lag ihm an Fisch, Fleisch oder Geflügel,
Und Soßen waren ihm wertlos wie Spreu;
Er verabscheute die Schweineherde am Trog,
Und saß nicht mit Zotenreißern beisammen,
Noch mit Mätressen auf der Spötterbank,
Doch nach Quellen dürstete des Pilgers Seele,
Und Waldluft genügte ihm als Nahrung,
Doch labte er sich oft an selt’nen Gartennelken.«

    Duré lächelte, eindeutig verwirrt.
    »Wir haben alle gedacht, dass wir in der ersten Nacht triumphieren oder sterben würden«, sagte der Konsul. »Mit einem langen Aufenthalt hier haben wir nicht gerechnet.«
    Brawne Lamia stand auf und wischte sich die Hose ab. »Ich gehe«, sagte sie.

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