Die Hyperion-Gesänge
»Ich dürfte vier bis fünf Tagesrationen hertragen können, wenn es sich um Feldpacks oder die schichtverpackten Vorräte handelt, die wir gesehen haben.«
»Ich gehe auch«, sagte Martin Silenus.
Es herrschte Schweigen. Im Verlauf der einwöchigen Pilgerfahrt waren der Dichter und Lamia ein halbes Dutzend Mal beinahe zu Tätlichkeiten übergegangen. Einmal hatte sie gedroht, sie würde den Mann umbringen. Sie sah ihn lange an. »Na gut«, sagte sie schließlich. »Gehen wir bei der Sphinx vorbei und holen unsere Rucksäcke und Wasserflaschen.«
Die Gruppe ging das Tal entlang, während die Schatten der westlichen Felswand länger wurden.
17
Zwölf Stunden vorher trat Oberst Fedmahn Kassad von der Wendeltreppe auf das höchste erhaltene Geschoss des Kristallmonolithen. Flammen loderten auf allen Seiten empor. Durch die Löcher, die er in die Kristalloberfläche des Gebildes gefeuert hatte, konnte Kassad Dunkelheit erkennen. Der Sturm wehte karmesinroten Sand durch die Öffnungen, bis dieser die Luft wie Staub gewordenes Blut erfüllte. Kassad zog den Helm auf.
Zehn Schritte von ihm entfernt wartete Moneta.
Sie war nackt unter dem Energiehautanzug, und die Wirkung war, als wäre Quecksilber direkt auf die Haut gegossen worden. Kassad sah die Spiegelungen der Flammen auf den
Rundungen von Brüsten und Schenkeln und das Funkeln in den Grübchen an Hals und Nabel. Ihr Hals war lang, das Gesicht perfekt und ebenmäßig glatt verchromt. In ihren Augen spiegelte sich doppelt der Schatten der großen Gestalt von Fedmahn Kassad.
Kassad hob das Gewehr und klickte den Wahlschalter manuell auf Spektrum-Total-Feuer. In seinem aktivierten Kampfpanzer verkrampfte sich sein Körper in Erwartung eines Angriffs.
Moneta bewegte die Hand, worauf der Hautanzug vom Kopf bis zum Hals verschwand. Jetzt war sie verwundbar. Kassad war, als würde er jede Facette ihres Gesichts kennen, jede Pore und jedes Fältchen. Ihr braunes Haar war kurzgeschnitten und fiel sanft nach links. Die Augen waren unverändert – groß, neugierig, von grüner Tiefe. Der kleine Mund mit der vollen Unterlippe verweilte immer noch kurz vor einem Lächeln. Er bemerkte die leicht fragend hochgezogenen Augenbrauen, die kleinen Ohren, die er geküsst und in die er so oft geflüstert hatte. Den weichen Hals, an den er so oft die Wange gedrückt hatte, um ihrem Puls zu lauschen.
Kassad hob das Gewehr und richtete es auf sie.
»Wer bist du?«, fragte sie. Ihre Stimme war so sanft und sinnlich, wie er sie in Erinnerung hatte, der leichte Akzent kaum wahrnehmbar.
Kassad hielt mit dem Finger am Abzug inne. Sie hatten sich so oft geliebt, kannten einander seit Jahren aus seinen Träumen und ihrer Liebeslandschaft militärischer Simulationen. Aber wenn sie sich wirklich rückwärts in der Zeit bewegte …
»Ich weiß«, sagte sie mit ruhiger Stimme und offenbar ohne etwas von dem Druck zu ahnen, den sein Finger schon auf den Abzug ausübte, »du bist derjenige, den der Herr der Schmerzen angekündigt hat.«
Kassad rang heftig nach Luft. Als er sprach, klang seine Stimme rauh und gepresst. »Du kannst dich nicht an mich erinnern?«
»Nein.« Sie legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. »Aber der Herr der Schmerzen hat mir einen Krieger versprochen. Es ist Schicksal, dass wir uns begegnen.«
»Wir sind uns schon vor langer Zeit begegnet«, brachte Kassad heraus. Das Gewehr würde automatisch auf das Gesicht zielen und jede Mikrosekunde Wellenlängen und Frequenzen verändern, bis der Hautanzug besiegt war. Zusammen mit Höllenpeitsche und Laserstrahlen würden einen Augenblick später Projektile und Pulsladungen abgefeuert werden.
»Ich habe keine Erinnerungen an längst Vergangenes«, sagte sie. »Wir bewegen uns im Strom der Zeit in unterschiedliche Richtungen. Mit welchem Namen kennst du mich in meiner Zukunft und deiner Vergangenheit?«
»Moneta«, keuchte Kassad und wollte seine verkrampften Finger der Hand zum Abdrücken zwingen.
Sie lächelte, nickte. »Moneta. Das Kind von Memory, der Erinnerung. Welch grimmige Ironie!«
Kassad musste an ihren Verrat denken, an ihre Verwandlung, als sie zum letzten Mal im Sand über der verlassenen Stadt der Dichter mit ihm kopuliert hatte. Sie war entweder zum Shrike geworden oder hatte zugelassen, dass das Shrike an ihre Stelle getreten war. Das hatte aus einem Akt der Liebe etwas Obszönes gemacht.
Oberst Kassad drückte ab.
Moneta blinzelte. »Die funktioniert hier nicht. Warum möchtest du mich
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