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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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stolpernd und halb rutschend die instabile Düne hinab.

    Als sie aus dem Sand auf das Nadelgras und in das verfilzte Dickicht der Kuppe traten, konnte Martin Silenus den Blick nicht von den Ruinen der Stadt der Dichter wenden. Lamia hatte sie links umgangen und alles gemieden, abgesehen von den Steinen der halb verborgenen Straßen, die die Stadt umringten, und andere Straßen, die ins Ödland führten, bis sie in den Dünen verschwanden.
    Silenus blieb immer weiter zurück – bis er stehenblieb und sich auf eine umgestürzte Säule setzte, die einst ein Tor gewesen war, durch das die Androidenarbeiter jeden Abend gingen, wenn sie ihre Arbeit auf den Feldern beendet hatten. Diese Felder existierten nicht mehr. Die Aquädukte, Kanäle und Straßen wurden nur noch von umgestürzten Steinen, Vertiefungen im Sand und sandbedeckten Stümpfen von Bäumen angedeutet, die einmal über einem Bachbett aufgeragt oder einem malerischen Weg Schatten gespendet hatten.
    Martin Silenus wischte sich das Gesicht mit seinem Barett ab, während er die Ruinen betrachtete. Die Stadt war immer noch weiß – so weiß wie freiliegende Knochen unter wanderndem Sand, so weiß wie Zähne in einem erdbraunen Schädel.
    Von seinem Sitzplatz aus konnte Silenus erkennen, dass viele Gebäude noch so waren, wie er sie vor mehr als anderthalb Jahrhunderten zum letzten Mal gesehen hatte. Das Amphitheater der Dichter lag halbvollendet, aber königlich in seinem verfallenen Zustand da, ein weißes, außerirdisches römisches Kolosseum, das von Wüstenflächen und Efeu überwuchert war. Das große Atrium lag offen unter dem Himmel, die Galerien waren zertrümmert – nicht von der Zeit, wie Silenus wusste, sondern von den Sonden und Lanzen und Explosivladungen der Sicherheitsleute des Traurigen Königs Billy in den Jahrzehnten nach der Evakuierung der Stadt. Sie wollten das Shrike töten. Sie wollten Elektronik und zornige Strahlen
gebündelten Lichts benützen, um Grendel zu töten, nachdem er die Methalle in Schutt und Asche gelegt hatte.
    Martin Silenus kicherte, beugte sich vor, und plötzlich war ihm schwindlig von Hitze und Erschöpfung.
    Silenus konnte die große Kuppel der Versammlungshalle erkennen, wo er seine Mahlzeiten eingenommen hatte – anfangs mit Hunderten in künstlerischer Eintracht, dann abgeschieden mit den wenigen anderen, die nach Billys Evakuierung nach Keats aus ihren ureigensten und unerfindlichen Gründen geblieben waren, und zuletzt allein. Wirklich allein. Einmal hatte er einen Kelch geworfen, und das Echo hatte eine halbe Minute lang unter der rebenüberwucherten Kuppel gehallt.
    Allein mit den Morlocks, dachte Silenus. Aber zuletzt nicht einmal Morlocks als Gesellschaft. Nur meine Muse.
    Eine unerwartete Explosion von Geräuschen erfolgte – ein Schwarm weißer Tauben flatterte aus einer Nische zwischen dem Haufen verfallener Türme hervor, der einmal der Palast des Traurigen Königs Billy gewesen war. Silenus beobachtete, wie sie am überhitzten Himmel kreisten und schwebten und wunderte sich, wie sie hier, am Rande des Nirgendwo, die Jahrhunderte überlebt hatten.
    Wenn ich es konnte, dachte er, warum sie nicht?
    Schatten lagen über der Stadt, Flecken süßen Schattens. Silenus fragte sich, ob die Brunnen noch brauchbar sein würden, ob die großen unterirdischen Reservoire, die versunken waren, bevor die ersten Saatschiffe hier landeten, noch mit frischem Wasser gefüllt waren. Er fragte sich, ob sein Schreibtisch aus Holz, eine Antiquität von der Alten Erde, noch in dem kleinen Gemach stehen würde, wo er den größten Teil seiner Gesänge geschrieben hatte.
    »Was ist denn los?« Brawne Lamia war zurückgekommen und stand neben ihm.

    »Nichts.« Er blickte blinzelnd zu ihr auf. Die Frau sah wie ein kurzer Baum aus, eine Masse dunkler Schenkelwurzeln, sonnenverbrannte Rinde und potenzielle Energie. Er versuchte sich vorzustellen, dass sie erschöpft war – die Anstrengung machte ihn müde. »Mir ist nur eben klar geworden«, sagte er, »dass wir unsere Zeit vergeuden, wenn wir bis zum Keep gehen. Es gibt Brunnen in der Stadt. Wahrscheinlich auch Lebensmittelvorräte.«
    »Nein«, sagte Lamia. »Der Konsul und ich haben daran gedacht und darüber gesprochen. Die tote Stadt wurde seit Generationen geplündert. Pilger zum Shrike dürften die Vorräte schon vor sechzig bis achtzig Jahren verbraucht haben. Die Brunnen sind nicht zuverlässig – die wasserführenden Schichten haben sich verändert, die

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