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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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hellenistischen Götter. Es handelte vom Kampf der Olympier, nachdem die Titanen
sich weigerten zu weichen – dem Kochen der großen Meere, als Ozeanus mit seinem Usurpator Neptun kämpfte, dem Erlöschen von Sonnen, während Hyperion mit Apoll um die Macht über das Licht rang, und dem Erbeben des Universums selbst, als Saturn sich mit Jupiter um die Herrschaft über den Thron der Götter schlug. Es ging nicht nur um das Dahinscheiden einer Götterriege, die durch eine neue ersetzt wurde, sondern um das Ende eines Goldenen Zeitalters und den Anbeginn finsterer Zeiten, die den Untergang aller sterblichen Wesen mit sich brachten.
    Die Hyperionischen Gesänge machten kein Hehl daraus, dass diese Götter verschiedene Identitäten besaßen: Die Titanen ließen sich mühelos als Helden der kurzen Geschichte der Menschheit in der Milchstraße erkennen, die olympischen Usurpatoren waren die KIs des TechnoCore, das Schlachtfeld erstreckte sich über die vertrauten Kontinente, Meere und Lüfte aller Welten im Netz. Und inmitten von alldem lauerte das Ungeheuer Dis, Sohn des Saturn und erpicht, das Königreich zusammen mit Jupiter zu erben, und richtete unter Menschen wie Göttern gleichermaßen Verwüstungen an.
    Die Gesänge handelten aber auch von den Beziehungen zwischen Geschöpfen und ihren Schöpfern; von der Liebe zwischen Eltern und Kindern, Künstlern und ihrer Kunst, zwischen allen Schöpfern und ihren Schöpfungen. Das Gedicht feierte Liebe und Loyalität, wankte aber mit seiner konstanten Bedrohung von Korruption durch Liebe zur Macht, menschliche Ambitionen und intellektuelle Überheblichkeit am Rand des Nihilismus.
    Martin Silenus arbeitete seit mehr als zwei Standardjahrhunderten an seinen Gesängen. Seine besten Arbeiten waren in dieser Umgebung entstanden – der verlassenen Stadt, wo der Wüstenwind wie ein geheimnisvoller griechischer Chor im Hintergrund heulte und die plötzliche Unterbrechung
durch das Shrike eine allgegenwärtige Bedrohung war. Indem er sein eigenes Leben gerettet hatte, indem er weggegangen war, hatte Silenus seine Muse verraten und seine Feder zur Tatenlosigkeit verdammt. Als er jetzt wieder zu arbeiten anfing, als er dem sicheren Pfad folgte, dem perfekten Kreis, den nur der inspirierte Schriftsteller erfahren kann, war Martin Silenus zumute, als würde er ins Leben zurückkehren. Seine Adern wurden durchströmt, die Lunge füllte sich, er kostete die reine Luft und das volle Licht, ohne sich ihrer bewusst zu sein, genoss jede Bewegung des uralten Federhalters auf dem Pergament, bewunderte den gewaltigen Stapel beschmierter Seiten, die auf dem runden Tischchen lagen, wo Geröllstücke als Briefbeschwerer dienten, und die Geschichte entfaltete sich wieder ungehindert; mit jedem Vers, mit jeder Zeile lockte die Unsterblichkeit.
    Silenus hatte den schwierigsten und aufregendsten Teil des Gedichts erreicht, die Szenen, in denen der Konflikt Tausende Landschaften überspannte, ganze Zivilisationen in Schutt und Asche gelegt wurden und die Abgeordneten der Titanen einen Waffenstillstand erbaten, um sich mit den humorlosen Recken der Olympier zu treffen und zu verhandeln. Durch diese epische Landschaft der Fantasie schritten Saturn, Hyperion, Cottus, Iapetus, Ozeanus, Briareus, Mimus, Porphyrion, Enceladus, Rhoetus und andere, deren gleichermaßen titanische Schwestern Tethys, Phoebe, Theia und Clymene – und ihnen gegenüber die leutseligen Antlitze von Jupiter, Apollo und deren Parteigänger.
    Silenus kannte das Ende dieses epischsten aller Gedichte nicht. Er lebte nur noch, um dieses Werk zu vollenden – schon seit Jahrzehnten. Dahin waren seine Jugendträume von Ruhm und Reichtum durch das Wort – er hatte unvorstellbaren Ruhm und Reichtum erlangt, und es hatte ihn fast umgebracht, hatte seine Kunst getötet – und obwohl er wusste,
dass die Gesänge das beste literarische Werk seiner Zeit waren, wollte er es nur vollenden, wollte selbst den Ausgang erfahren und jeden Vers, jede Zeile, jedes Wort in der feinsinnigsten, schönsten und reinsten Form zu Papier bringen.
    Nun schrieb er fieberhaft und fast irre vor Verlangen, das zu vollenden, was er lange Zeit für unvollendbar gehalten hatte. Worte und Ausdrücke flossen aus seiner antiken Feder auf das antike Papier; Reime entstanden ohne Anstrengung, Cantos fanden ihre Stimme und vollendeten sich praktisch von selbst, ohne erforderliche Überarbeitung, ohne Pause für die Inspiration. Das Gedicht entfaltete sich mit

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