Die Hyperion-Gesänge
vom Keep herunterzusteigen. Aber der Aufstieg stellte selbst ihre auf Lusus gestählten Muskeln auf eine harte Bewährungsprobe. Während sie kletterte, wurde die Luft kühler, der Ausblick atemberaubender, und als sie vierhundert Meter über dem Vorgebirge war, schwitzte sie nicht mehr und das Tal der Zeitgräber war wieder zu sehen. Von diesem Blickwinkel aus war lediglich die Spitze des Kristallmonolithen zu erkennen, und dieser bestand nur aus einem unregelmäßigen Aufblitzen und Flimmern von Licht. Sie verweilte einmal und vergewisserte sich, dass es sich nicht um eine Botschaft handelte, die durch Leuchtsignale übermittelt wurde, aber das Aufblitzen war wahllos, lediglich ein Stück abgebrochenen Kristalls, das an dem verwüsteten Monolithen baumelte und das Sonnenlicht reflektierte.
Vor den letzten hundert Stufen versuchte Lamia es noch einmal mit ihrem Komlog. Die Komkanäle lieferten den üblichen Unsinn nebst Rauschen, wahrscheinlich eine Störung durch die Zeitgezeiten, die lediglich auf kürzeste Entfernung
elektromagnetische Kommunikation zuließen. Ein Komlaser hätte funktioniert – jedenfalls schien er bei dem vorsintflutlichen Komlogrelais des Konsuls zu funktionieren –, aber seit Kassads Verschwinden besaßen sie keine Komlaser mehr. Lamia zuckte mit den Achseln und erklomm die letzten Stufen.
Chronos Keep war von den Androiden des Traurigen Königs Billy gebaut worden; es war als Erholungszentrum, Rasthaus und Sommerfrische für Künstler gedacht gewesen. Nach der Evakuierung der Stadt der Dichter hatte es über ein Jahrhundert lang leer gestanden und war lediglich von den tollkühnsten Abenteurern besucht worden.
Da die Bedrohung durch das Shrike langsam nachgelassen hatte, hatten sich Touristen und Pilger das Gebäude zunutze gemacht, und schließlich hatte die Kirche des Shrike es als notwendige Station der alljährlichen Pilgerfahrt wiedereröffnet. Man munkelte, dass einige der Säle, die tief ins Felsgestein gehauen oder auf den unzugänglichsten Türmchen gelegen waren, als Stätten für heidnische Rituale oder Opfer für das Wesen dienten, das die Anhänger des Shrike das Avatar nannten.
Aufgrund des bevorstehenden Öffnens der Zeitgräber, der unregelmäßigen Zeitgezeiten und der Evakuierung der nördlichen Region war es im Chronos Keep wieder still geworden. Und so war es auch, als Brawne Lamia zurückkehrte.
Die Wüste und die tote Stadt lagen immer noch im Sonnenschein, aber über dem Keep herrschte Dämmerung, als Lamia die unterste Terrasse erreichte, einen Moment ausruhte, die Taschenlampe im kleinsten Rucksack fand und das Labyrinth betrat. Die Korridore waren dunkel. Während ihres Aufenthalts vor zwei Tagen hatte Kassad verkündet, dass die Energieversorgung endgültig ausgefallen war – Solarkonverter waren zertrümmert, die Fusionszellen entzwei, selbst die Notbatterien waren zerbrochen und auf dem Boden verstreut. Lamia hatte mehrmals darüber nachgedacht, während sie sechshunderteinundsechzig
Stufen emporgestiegen war und die Fahrstuhlkabinen betrachtete hatte, die erstarrt auf ihren rostigen vertikalen Schienen saßen.
Die größeren Säle, die für Dinnerempfänge und Versammlungen gedacht waren, sahen noch so aus, wie sie sie verlassen hatten – voll von vertrockneten Überresten vergessener Banketts und Spuren der Panik. Leichen waren keine zu sehen, aber braune Flecken auf Steinwänden und Wandteppichen deuteten auf eine Orgie der Gewalt hin, die sich vor nicht allzu vielen Wochen hier abgespielt haben musste.
Lamia schenkte dem Chaos keine Beachtung, achtete nicht auf die Vorboten – große, schwarze Vögel mit obszön menschenähnlichen Gesichtern –, die vom großen Speisesaal hochstoben, und kümmerte sich auch nicht um ihre eigene Müdigkeit, während sie die vielen Etagen zur Vorratskammer emporstieg. Die Treppen wurden auf unerklärliche Weise schmaler, während das fahle Licht ekelhafte Farbtöne durch die Buntglasscheiben warf. Wo die Scheiben eingeschlagen waren oder ganz fehlten, blickten Monsterfratzen herein, als wären sie im Akt des Eindringens erstarrt. Kalter Wind wehte von den kalten Höhen des Bridle Range herab, und Lamia fröstelte unter dem Sonnenbrand.
Die Rationen und zusätzlichen Habseligkeiten befanden sich noch dort, wo sie sie zurückgelassen hatten – in dem kleinen Lagerkämmerchen hoch über der zentralen Kammer. Lamia vergewisserte sich, dass sich in einigen der Kisten unverderbliche Lebensmittelrationen
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