Die Hyperion-Gesänge
kichern. Soweit er wusste, hatte das Shrike nie gesprochen – nie mit jemandem kommuniziert. Abgesehen von den verwandten Medien Schmerz und Tod. »Nein!«, schrie er wieder. »Ich muss arbeiten. Nimm einen anderen, verdammt!«
Das Shrike kam noch einen Schritt näher. Stumme Plasmaexplosionen pulsierten am Himmel, Gelb- und Rottöne huschten über die Quecksilberbrust und Arme des Wesens wie verschüttete dünnflüssige Farben. Martin Silenus’ Hand zuckte und schrieb über die vorherige Botschaft: ES IST JETZT ZEIT, MARTIN.
Silenus drückte sein Manuskript an sich und nahm die leeren Seiten vom Tisch, damit er nicht mehr schreiben konnte. Er fletschte die Zähne zu einem grässlichen Starrkrampf, während er das Wesen förmlich anfauchte.
DU WARST BEREIT, MIT DEINEM MÄZEN DIE PLÄTZE ZU TAUSCHEN, schrieb seine Hand auf die Tischplatte.
»Jetzt nicht!«, rief der Dichter. »Billy ist tot! Lass es mich vollenden. Bitte !« Martin Silenus hatte in seinem langen, langen Leben noch nie gefleht. Jetzt tat er es. »Bitte, oh, bitte. Lass es mich vollenden!«
Das Shrike kam noch einen Schritt näher. Es war jetzt so nahe, dass sein missgestalteter Körper die Sterne verdeckte und den Dichter in Schatten hüllte.
NEIN, schrieb die Hand von Martin Silenus, dann ließ er den Federhalter fallen, als das Shrike unendlich lange Arme ausstreckte und die Arme des Dichters mit unendlich scharfen Fingern bis aufs Mark durchschnitt.
Martin Silenus schrie, als er unter der Kuppel des Speisesaals hervorgezerrt wurde. Er schrie noch, als er Dünen unter sich sah, das Rascheln von Sand unter seinen Schreien hörte und den Baum aus dem Tal emporragen sah.
Der Baum war größer als das Tal, höher als die Berge, die die Pilger überquert hatten; die höchsten Zweige schienen ins Weltall zu ragen. Der Baum bestand aus Stahl und Chrom, die Äste waren Dornen und Speichen. Menschen wanden sich auf diesen Dornen – Tausende, Zehntausende. Im roten Licht des sterbenden Himmels konzentrierte sich Silenus über seinen
Schmerz hinweg und stellte fest, dass er einige Gestalten kannte. Es waren Leiber , keine Seelen oder andere Abstrakta, und sie litten eindeutig die Qualen eines Lebens unter höllischen Schmerzen.
ES IST NOTWENDIG, schrieb Silenus’ Hand auf die unnachgiebige alte Brust des Shrike. Blut tropfte auf Quecksilber und Sand.
»Nein!«, schrie der Dichter. Er hämmerte mit den Fäusten auf Skalpellklingen und Stacheldraht ein. Er zog und zuckte und wand sich, während das Geschöpf ihn dichter an sich drückte und ihn auf seine Dornen spießte, als wäre er ein Schmetterling, ein Exemplar, das festgesteckt wurde. Nicht die unvorstellbaren Schmerzen trieben Silenus in den Wahnsinn, sondern das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts. Er hatte es fast vollendet gehabt. Er hatte es fast vollendet gehabt!
»Nein!«, schrie Martin Silenus, der sich noch heftiger wehrte, bis eine Gischt aus Blut und obszöne Flüche die Luft erfüllten. Das Shrike trug ihn zu dem wartenden Baum.
In der toten Stadt hallten die Schreie noch eine Minute, wurden leiser und kamen von weiter her. Dann herrschte Stille, lediglich unterbrochen von den Tauben, die in ihre Nester zurückkehrten und mit leisem Flügelschlag auf die zerschmetterten Kuppeln und Türme niedersanken.
Der Wind nahm zu, klirrte mit lockeren Perspexscheiben und Mauerwerk, jagte trockene Blätter durch ausgetrocknete Brunnen, drang durch die gesprungenen Scheiben der Kuppel ein und hob mit einem sanften Wirbel Manuskriptseiten empor. Manche Seiten entkamen und wurden über stille Innenhöfe und verlassene Fußwege und eingestürzte Aquädukte geweht.
Nach einer Weile flaute der Wind ab, und nichts bewegte sich mehr in der Stadt der Dichter.
22
Brawne Lamia musste feststellen, wie sich ihr vierstündiger Fußmarsch in einen zehnstündigen Alptraum verwandelte. Zuerst der Umweg zur toten Stadt und die schwierige Entscheidung, ob sie Silenus allein zurücklassen sollte. Sie wollte nicht, dass der Dichter dort blieb; sie wollte ihn aber auch nicht zwingen, mit ihr zu gehen, und nicht die Zeit verlieren, ihn wieder zu den Gräbern zurückzubringen. Der Umweg über die Hügelkuppe kostete sie auch so schon eine Stunde.
Es war anstrengend und ermüdend, die letzten Dünen und die Felswüste zu durchqueren. Als sie das Vorgebirge erreichte, war es Spätnachmittag, und das Keep lag im Schatten.
Vor vierzig Stunden war es leicht gewesen, die sechshundertundeinundsechzig Stufen
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