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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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erschreckender Geschwindigkeit, erstaunlichen Offenbarungen und schmerzlicher Schönheit in Worten und Metaphern gleichermaßen.
    Unter der Flagge des Waffenstillstands sahen Saturn und sein Widersacher Jupiter einander über eine Platte aus poliertem Marmor hinweg an. Ihre Dialoge waren episch und schlicht zugleich, ihre Argumente für die Existenz, ihre Begründung des Krieges schufen die erlesenste Debatte seit Thukydides Melianischen Dialogen. Plötzlich floss etwas gänzlich Unerwartetes, das Martin Silenus in den langen Stunden des Nachdenkens ohne seine Muse nie und nimmer geplant hatte, in das Gedicht ein. Die beiden Könige der Götter brachten ihre Angst vor einem dritten Widersacher zum Ausdruck, einer schrecklichen Macht von außerhalb, die die Stabilität beider Regentschaften unterwanderte. Silenus sah voll unverhohlenen Erstaunens wie die Figuren, die er in Tausenden mühsamen Stunden geschaffen hatte, sich seinem Willen widersetzten, einander über die Marmorplatte hinweg die Hände schüttelten und einander Beistand schworen gegen …
    Gegen was?
    Der Dichter hielt inne, die Feder verweilte, als er feststellte, dass er kaum noch die Seite sehen konnte. Er schrieb schon
geraume Zeit im Halbdunkel, und nun hatte sich völlige Dunkelheit niedergesenkt.
    Silenus fand in dem Vorgang zu sich selbst zurück, die Welt wieder in sich einströmen zu lassen, wie man nach einem Orgasmus langsam wieder zu Sinnen kommt. Aber die Rückkehr des Dichters in die Welt war qualvoller, da er Wolken des Ruhms hinter sich herzog, die sich rasch im weltlichen Strom des Trivialen verflüchtigten.
    Silenus sah sich um. In dem großen Speisesaal war es ziemlich dunkel, abgesehen vom schwachen Licht der Sterne und den fernen Explosionen hinter den efeuüberwucherten Fenstern ganz oben. Die Tische um ihn herum waren lediglich Schatten, die Wände, dreißig Meter in alle Richtungen entfernt, dunklere Schatten, die von der unregelmäßigen schwärzeren Dunkelheit der Wüstenflechte durchsetzt waren. Außerhalb des Speisesaals war Abendwind aufgekommen, dessen Stimme immer lauter klang, und die Risse und Sprünge und unregelmäßigen Löcher in der Kuppel über Silenus sangen mit Alt- und Sopranstimmen.
    Der Dichter seufzte. Er hatte keine Handfackel im Rucksack. Er hatte nur Wasser und seine Cantos mitgebracht. Und nun spürte er, wie sein Magen vor Hunger knurrte. Wo blieb die verfluchte Brawne Lamia? Aber kaum hatte er das gedacht, wurde ihm klar, ihn freute, dass die Frau nicht zurückgekommen war, um ihn zu holen. Er brauchte Einsamkeit, um das Gedicht zu beenden – bei dieser Geschwindigkeit würde er nicht länger als einen Tag brauchen, möglicherweise reichte die Nacht. Noch ein paar Stunden – und er würde sein Lebenswerk vollendet haben und bereit sein, die alltäglichen Kleinigkeiten zu genießen, die Trivialitäten des Lebens, die ihm seit Jahrzehnten nur Unterbrechungen seiner Arbeit gewesen waren.
    Martin Silenus seufzte wieder und räumte nacheinander
die Manuskriptseiten in seinen Rucksack. Er würde irgendwo ein Licht finden, ein Feuer anzünden, und wenn er die uralten Wandteppiche des Traurigen Königs Billy als Brennmaterial nehmen musste. Ja, er würde draußen im zuckenden Licht der Raumschlacht schreiben, wenn es erforderlich sein sollte.
    Silenus hielt die letzten Manuskriptseiten und den Federhalter in einer Hand, drehte sich um und suchte nach einem Ausgang.
    Etwas stand bei ihm in der dunklen Halle.
    Lamia, dachte er und spürte, wie Erleichterung und Enttäuschung in seinem Innern mit ihm rangen.
    Aber es war nicht Brawne Lamia. Silenus bemerkte die Verzerrung, den zu massigen Torso und die zu langen Beine, das Sternenlicht auf Panzer und Dornen, die Schatten von Armen unter Armen und ganz besonders das rubinrote Leuchten von Höllenfeuer anstelle von Augen.
    Silenus stieß ein Stöhnen aus und setzte sich wieder. »Nicht jetzt!«, schrie er. »Hebe dich fort, verflucht seien deine Augen!«
    Der hohe Schatten kam näher, seine Schritte auf dem kalten Keramikboden waren lautlos. Blutrote Energie waberte am Himmel, und der Dichter konnte nun die Dornen und Klingen und messerscharfen Schneiden erkennen.
    »Nein!«, schrie Martin Silenus. »Ich weigere mich. Lass mich in Ruhe!«
    Das Shrike kam näher. Silenus’ Hand zuckte, hob den Federhalter und schrieb auf den unteren Rand der letzten Seite: ES IST ZEIT, MARTIN.
    Er betrachtete, was er geschrieben hatte, und unterdrückte den Impuls, irre zu

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