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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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befanden, dann ging sie hinaus auf den kleinen Balkon, wo Lenar Hoyt vor so wenigen Stunden – so einer Ewigkeit – Balalaika gespielt hatte.
    Die Schatten der höchsten Gipfel fielen kilometerweit über den Sand, fast bis zur toten Stadt. Das Tal der Zeitgräber und die Einöde dahinter räkelten sich noch im Abendlicht, Findlinge und flache Felsformationen bildeten ein Durcheinander
von Schatten. Lamia konnte die Gräber von hier aus nicht erkennen, obwohl vom Monolithen noch ein gelegentliches Funkeln ausging. Sie versuchte es erneut mit dem Komlog und verfluchte es, als nur Statik und Hintergrundrauschen herauskamen; dann machte sie sich daran, ihre Vorräte auszusuchen und einzupacken.
    Sie nahm vier Packungen Grundnahrungsmittel, die in Schaumstoff und Fiberplastik eingeschweißt waren. Es gab Wasser im Keep – die Rinnen für die Schneeschmelze hoch oben waren eine Technologie, die nicht zusammenbrechen konnte. Sie füllte die Flaschen, die sie mitgebracht hatte, und suchte nach weiteren. Wasser brauchten sie am dringendsten. Sie verfluchte Silenus, weil er nicht mitgekommen war; der alte Mann hätte mindestens ein halbes Dutzend Wasserflaschen tragen können.
    Sie wollte gerade gehen, als sie das Geräusch hörte. Etwas war im Großen Saal zwischen ihr und der Treppe. Lamia streifte den letzten Rucksack über, zog die automatische Pistole ihres Vaters aus dem Gürtel und ging langsam die Treppe hinunter.
    Der Saal war verlassen; die Vorboten waren nicht zurückgekehrt. Schwere Wandteppiche, die der Wind bauschte, wehten wie verfaulte Flaggen über dem Durcheinander aus Lebensmitteln und Utensilien. An der gegenüberliegenden Wand drehte sich eine riesige Skulptur vom Antlitz des Shrike – ganz freischwebendes Chrom und Stahl – langsam im Wind.
    Lamia tastete sich durch den Saal und drehte sich alle paar Sekunden, sodass sie den Rücken nie lange einer der dunklen Ecken zuwenden musste. Plötzlich ertönte ein Schrei, bei dem sie wie angewurzelt stehenblieb.
    Es war nicht der Schrei eines Menschen. Die Töne gingen bis in den Ultraschallbereich und darüber hinaus, sie machten Lamia so nervös, dass sie den Pistolengriff umklammerte,
bis die Knöchel weiß wurden. Der Schrei brach so unvermittelt ab, als wäre der Tonarm von einer Schallplatte genommen worden.
    Lamia sah, woher das Geräusch gekommen war. Hinter der Tafel, hinter der Skulptur, unter den sechs Buntglasfenstern, wo das sterbende Licht stumpfe Farben blutete, befand sich eine kleine Tür. Die Stimme war von dort, von unten gekommen, als würde sie aus einem Kerker oder Verlies in der Tiefe ertönen.
    Brawne Lamia war neugierig. Ihr ganzes Leben war ein Konflikt mit einer Neugier über und jenseits der Norm gewesen, der seinen Höhepunkt darin gefunden hatte, dass Lamia den überflüssigen und manchmal amüsanten Beruf einer Privatdetektivin ergriffen hatte. Mehr als einmal hatte ihre Neugier zu Peinlichkeiten und Ärger geführt – oder beidem. Und mehr als einmal hatte sich ihre Neugier ausgezahlt und ihr Wissen eingebracht, das sonst kaum jemand hatte.
    Diesmal nicht.
    Lamia war gekommen, um dringend benötigte Nahrungsmittel und Wasser zu finden. Keiner der anderen wäre hierhergekommen  – die drei älteren Männer hätten es auch ohne den Umweg zur toten Stadt nicht schneller als sie schaffen können. Und alles oder alle anderen gingen sie nichts an.
    Kassad?, fragte sie sich, verdrängte den Gedanken aber. Dieser Laut war nicht aus dem Mund des FORCE-Oberst gekommen.
    Brawne Lamia wich von der Tür zurück, hielt die Pistole schussbereit, fand die Stufen zu den Hauptetagen und ging vorsichtig hinab, wobei sie so verstohlen wie möglich durch jeden Saal schritt, wie es eben mit siebzig Kilo Lebensmitteln und mehr als zwölf Wasserflaschen möglich war. Auf der untersten Etage sah sie ihr Spiegelbild in einem erblindeten Glas: untersetzter Körper, gezückte Pistole, eine gewaltige
Last Rucksäcke schwankend auf dem Rücken und an breiten Gurten Flaschen und Feldflaschen, die klackend aneinanderstießen.
    Lamia fand es nicht witzig. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie auf der untersten Terrasse draußen war, in der kühlen, dünnen Luft und sich wieder auf den Abstieg vorbereitete. Sie brauchte die Taschenlampe noch nicht – ein Abendhimmel, der plötzlich voll tiefhängender Wolken war, ergoss rosa und bernsteinfarbenes Licht über die Welt, das selbst das Keep und das Vorgebirge unten in seine satten

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