Die Hyperion-Gesänge
Farbtöne tauchte.
Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und ihre kräftige Beinmuskulatur schmerzte, noch ehe sie die Hälfte zurückgelegt hatte. Sie steckte die Pistole nicht weg, sondern hielt sie bereit, falls etwas von oben herabstoßen oder sich in einer Öffnung der Felswand zeigen sollte. Als sie unten angekommen war, entfernte sie sich von der Felswand und sah zu den Terrassen und Türmen einen halben Kilometer über ihr hinauf.
Felsen fielen in ihre Richtung. Nicht nur Felsen, wurde ihr klar, Monsterfratzen waren von ihren angestammten Plätzen gerissen worden und polterten mit den Felsen herunter, wobei das dämmrige Licht ihre dämonischen Gesichter beleuchtete. Lamia lief los, musste aber einsehen, dass sie mit den baumelnden Flaschen und Rucksäcken keine Möglichkeit hatte, eine sichere Entfernung zu erreichen, bis die Trümmer aufschlagen würden, daher warf sie sich zwischen zwei flache Felsblöcke, die gegeneinander lehnten.
Die Rucksäcke verhinderten, dass sie ganz darunterkriechen konnte, sie strengte sich an, zerriss Gurte und hörte die unglaublichen Geräusche, als die ersten Felsbrocken hinter ihr aufschlugen und über ihr als Querschläger davonpolterten. Lamia zog und zerrte mit einer Verbissenheit, die Ledergurte sprengte, Fiberplastik zerriss, und dann war sie unter den Felsen
und zog die Rucksäcke und Flaschen mit sich, weil sie entschlossen war, nicht noch einmal ins Keep zurückzukehren.
Felsbrocken so groß wie ihr Kopf und ihre Hände regneten um sie herum herab. Der zerschmetterte Kopf eines Trolls aus Stein sauste vorbei und zertrümmerte einen kleinen Felsen keine drei Meter entfernt. Einen Moment lang war die Luft voll von Splittern, größere Steine fielen auf die Felsen über ihrem Kopf, dann war der Erdrutsch vorbei und lediglich kleineres Geröll des Kielwassers prasselte herab.
Lamia beugte sich nach vorn, damit sie den Rucksack weiter unter das Felsdach ziehen konnte, als ein Steinbrocken von der Größe ihres Komlogs von der Felswand draußen abprallte, fast horizontal zu ihrem Versteck flog, zweimal in der engen Zuflucht ihrer Höhle abprallte und sie an der Schläfe traf.
Lamia erwachte mit dem Stöhnen einer alten Frau. Sie hatte Kopfschmerzen. Draußen war es dunkle Nacht, aber das Leuchtfeuer ferner Scharmützel erhellte das Innere ihrer Zuflucht. Sie hob die Finger zur Schläfe und ertastete getrocknetes Blut an Wange und Hals.
Sie zog sich aus der Höhle, kämpfte sich über das Durcheinander heruntergestürzter Felsen nach draußen, setzte sich einen Moment mit gesenktem Kopf hin und kämpfte gegen den Brechreiz.
Ihre Rucksäcke waren unversehrt, und nur eine Wasserflasche war zu Bruch gegangen. Sie fand die Pistole, die sie in der schmalen Zuflucht fallengelassen hatte, wo keine zertrümmerten Felsbrocken lagen. Das Felsplateau, wo sie stand, war durch die Wucht des kurzen Erdrutschs vernarbt und verwüstet worden.
Lamia konsultierte ihr Komlog. Keine Stunde war verstrichen. Nichts war heruntergestiegen, um sie fortzutragen oder ihr die Kehle aufzuschlitzen, während sie bewusstlos gewesen
war. Sie sah zum letzten Mal zu den jetzt unsichtbaren Balkonen und Zinnen des Keep hinauf, zog ihre Last hervor und hastete den tückischen Felspfad hinunter.
Martin Silenus befand sich nicht am Rand der toten Stadt, als sie dorthin kam. Irgendwie hatte sie auch nicht damit gerechnet, hoffte aber, er hätte das Warten einfach nur satt gehabt und wäre die paar Kilometer ins Tal allein gelaufen.
Die Versuchung, die Rucksäcke abzunehmen, die Flaschen auf den Boden zu legen und eine Weile auszuruhen, war sehr groß. Lamia widerstand ihr. Sie ging mit der kleinen Automatik in der Hand durch die Straßen der toten Stadt. Die Lichterexplosionen am Himmel reichten aus, ihren Weg zu erhellen.
Der Dichter antwortete nicht auf ihre hallenden Rufe, aber Hunderte kleiner Vögel, die Lamia nicht identifizieren konnte, stoben mit in der Dunkelheit weißen Flügeln explosionsartig in die Höhe. Sie ging durch die untersten Etagen des alten Königspalastes, feuerte sogar einmal die Pistole ab, aber sie fand keine Spur von Silenus. Sie schritt durch Innenhöfe zwischen dicht mit Ranken überwucherten Mauern, rief seinen Namen und suchte nach Spuren, dass er hier gewesen war. Einmal sah sie einen Springbrunnen, der sie an die Geschichte des Dichters über die Nacht erinnerte, als der Traurige König Billy verschwunden und vom Shrike fortgeschleppt worden war, aber es gab noch
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