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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Versammlungen erforderlich, und öffentliche Versammlungen bestanden in unserer Zeit aus Individuen, die über das All-Wesen oder andere Kanäle der Datensphäre kommunizierten; es ist schwer, das emotionale Potentials eines Mobs aufzubringen, wenn die Leute Kilometer
oder gar Lichtjahre voneinander entfernt und lediglich durch Komleitungen und Fatlinekanäle vereint sind.
    Plötzlich wurde ich aus meinem Nachdenken gerissen, weil das Toben der Menge verstummte und tausend Gesichter sich in meine Richtung drehten.
    »… und dort ist einer von ihnen! «, rief der heilige Mann des Shrike-Kults, dessen rotes Gewand leuchtete, als er in meine Richtung deutete. »Einer von denen aus dem engsten Kreis der Hegemonie … Einer der ränkeschmiedenden Sünder, die am heutigen Tag die Buße über uns gebracht haben … Dieser Mann und seinesgleichen wollen, dass das Shrike-Avatar euch für seine Sünden büßen lässt, während er und die anderen sich auf den geheimen Welten, die die Führer der Hegemonie für diesen Tag eingerichtet haben, in Sicherheit befinden!«
    Ich stellte die Kaffeetasse weg, schluckte den letzten Bissen Fladenbrot und sah mich fassungslos um. Der Mann stammelte Unsinn. Aber woher wusste er, dass ich von TC 2 gekommen war? Oder dass ich Zugang zu Gladstone hatte? Ich sah wieder hin, schirmte die Augen vor der grellen Helligkeit ab und versuchte, nicht auf die Gesichter und Fäuste zu achten, die in meine Richtung geschüttelt wurden, sondern konzentrierte mich auf das Gesicht über dem roten Gewand …
    Mein Gott, es war Spenser Reynolds, der Aktionskünstler, den ich zuletzt gesehen hatte, als er versuchte, das Gespräch beim Dinner im Treetops an sich zu reißen. Reynolds hatte sich den Kopf rasiert, sodass von seinem lockigen, frisierten Haar nur noch das Zöpfchen des Shrike-Kults übrig war, aber das Gesicht war immer noch braungebrannt und hübsch, wenn auch gerade vor gespieltem Hass und der fanatischen Überzeugung des wahren Gläubigen verzerrt.
    »Ergreift ihn!«, schrie Reynolds, der Hetzer des Shrike-Kults, und deutete in meine Richtung. »Ergreift ihn und lasst ihn
büßen für die Zerstörung unserer Heimat, den Tod eurer Familien, das Ende der Welt!«
    Ich drehte mich tatsächlich um, weil ich mir dachte, dass dieser anmaßende Schmierenkomödiant unmöglich mich meinen konnte.
    Aber er meinte mich. Und die Menge war schon so weit zum Mob geworden, dass eine Woge Menschen im Umkreis des brüllenden Demagogen in meine Richtung strömte, die Fäuste schwang und sabberte, und diese Bewegung reichte aus, andere aus dem Zentrum mitzureißen, bis sich die Ausläufer der Menge unter mir ebenfalls in meine Richtung drängten, um nicht zertrampelt zu werden.
    Aus der Gruppe wurde eine brüllende, kreischende, plärrende Masse Aufständischer – in diesem Augenblick lag die Summe der IQs der Menge weit unter der des geistig ärmsten Mitglieds. Ein Mob kennt Leidenschaft, kein Hirn.
    Ich wollte nicht so lange bleiben, dass ich ihnen das erklären konnte. Die Menge teilte sich und stürmte auf beiden Seiten der zweigeteilten Treppe herauf. Ich drehte mich um und versuchte mein Glück an der Brettertür hinter mir. Sie war abgeschlossen.
    Ich trat dagegen, bis die Tür beim dritten Versuch nach innen splitterte, schlüpfte gerade noch vor zugreifenden Händen durch die Lücke und rannte die dunkle Treppe hinauf in einen Flur, der nach Alter und Schimmel roch. Schreie und Splittern waren zu hören, als der Mob die Tür hinter mir demolierte.
    Im dritten Stock befand sich eine Wohnung, die bewohnt war, obwohl das Gebäude einen verlassenen Eindruck gemacht hatte. Die Tür war nicht verschlossen. Ich machte die Tür auf, als ich gerade Schritte eine Treppenflucht unter mir hörte.
    »Bitte helfen …«, begann ich und verstummte. In dem dunklen
Zimmer hielten sich drei Frauen auf; möglicherweise drei weibliche Generationen derselben Familie, denn sie wiesen alle eine gewisse Ähnlichkeit auf. Alle drei saßen auf klapprigen Stühlen, waren in schmutzige Lumpen gekleidet, hatten weiße Arme ausgestreckt und blasse Finger um unsichtbare Kugeln gekrümmt; ich konnte das dünne Metallkabel sehen, das sich vom weißen Haar der ältesten Frau zum schwarzen Deck auf einem staubigen Tisch schlängelte. Identische Kabel entsprangen den Köpfen von Tochter und Enkelin.
    Kabeljunkies. Wie es aussah, im letzten Stadium von Verkabelungsanorexie. Jemand musste ab und zu vorbeikommen, sie intravenös ernähren

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