Die Hyperion-Gesänge
Schaukasten ab. »O … nein«, sagte ich.
Der Archivar griff sich mit seiner kleinen Hand ans Kinn. »Verzeihen Sie, wenn ich das so offen sage, Sir, aber es wäre ein schrecklicher Verlust, wenn Sie es nicht tun würden. Schon in unseren wenigen Unterhaltungen im Lauf der Jahre ist deutlich geworden, dass Sie einer der besten – wenn nicht der beste – Keats-Kenner im Netz sind.« Er seufzte und wich einen Schritt zurück. »Bitte verzeihen Sie meine Offenheit, Sir.«
Ich sah ihn an. »Schon gut«, sagte ich und wusste plötzlich genau, für wen er mich hielt und warum er meinte, dass ich hierhergekommen war.
»Sie möchten sicher gern allein sein, Sir.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Der Archivar verbeugte sich ansatzweise, verließ das Zimmer und machte die dicke Tür bis auf einen Spalt zu. Das einzige Licht stammte aus drei in die Decke eingelassenen Lampen: zum Lesen ausreichend, aber nicht so grell, dass die andächtige Atmosphäre des Raums zunichtegemacht worden wäre. Das einzige Geräusch waren die weit entfernten Schritte des Archivars. Ich ging zu dem Schaukasten, legte die Hände an den Rand und achtete sorgfältig darauf, dass ich das Glas nicht verschmierte.
Der erste Keats-Rekonstruktionscybrid, »Johnny«, war offensichtlich
in seinen wenigen Jahren im Netz öfter einmal hierhergekommen. Jetzt fiel mir ein, dass in Brawnes Geschichte eine Bibliothek irgendwo auf Renaissance V erwähnt worden war. Sie war ihrem Klienten und Liebhaber am Anfang der Ermittlungen wegen seines »Todes« hierhergefolgt. Später, nachdem er tatsächlich getötet worden war, abgesehen von der in der Schrön-Schleife gespeicherten Persönlichkeit, hatte sie diesen Raum besucht. Sie hatte den anderen von zwei Gedichten erzählt, die der erste Cybrid in seinem anhaltenden Bemühen, den Grund für seine Existenz herauszufinden – und für sein Sterben – täglich besucht hatte.
Diese beiden Originalmanuskripte befanden sich in dem Schaukasten. Beim ersten handelte es sich – fand ich – um ein reichlich überzuckertes Liebesgedicht mit der Anfangszeile »Der Tag und seine Süße sind dahin!«. Das zweite war besser, wenn auch mit der romantischen Morbidität eines zu romantischen und morbiden Zeitalters behaftet:
Die warme Hand, die noch voll Leben ist
Und zupackt mit Begier, die würde dich,
Läg sie erstarrt in eisig stummer Gruft,
So jagen tags und so durchkälten nachts,
Dass du dein eigen Herzblut gäbst für sie,
Damit es rot durch meine Adern rauscht,
Und dir wär wieder leicht zumut – hier, schau:
Ich halte sie dir hin!
Brawne Lamia hatte das fast als persönliche Botschaft von ihrem toten Liebhaber, dem Vater ihres ungeborenen Kindes, angesehen. Ich betrachtete das Pergament und senkte den Kopf, bis mein Atem das Glas beschlug.
Es war keine Botschaft durch die Zeiten für Brawne, nicht einmal eine zeitgenössische Klage für Fanny, die einzige und
teuerste Zierde meines Herzens. Ich betrachtete die verblassten Worte – die sorgfältig ausgeführte Handschrift, die Buchstaben trotz Abgründen von Zeit und Sprachentwicklung noch deutlich lesbar – und erinnerte mich, wie ich sie im Dezember 1819 geschrieben und dieses Fragment auf die Seite eines satirischen »Märchens« gekritzelt hatte, das ich gerade begonnen hatte: The Cap and Bells, or: The Jealousies. Ein schrecklich alberner Unsinn, den ich zurecht nach dem kurzen Vergnügen, das er mir bereitete hatte, aufgegeben hatte.
Das Fragment »Die warme Hand« war einer jener poetischen Rhythmen gewesen, die wie ein nicht aufgelöster Akkord im Geiste hallen und einen treiben, ihn geschrieben auf Papier zu sehen. Er war wiederum das Echo eines früheren, unbefriedigenden Verses gewesen – des achtzehnten, glaube ich, in meinem zweiten Versuch, die Geschichte vom Fall des Sonnengottes Hyperion zu erzählen. Ich weiß noch, dass die erste Fassung – die zweifellos noch gedruckt vorliegt, wo immer meine literarischen Gebeine auch zur Schau gestellt werden wie die mumifizierten Überbleibsel eines ungewollten Heiligen in Beton und Glas unter dem Altar der Literatur – hatte gelautet:
Welch Lebender kann sagen:
»Du bist kein Dichter, darfst den Traum nicht schildern?«
Hat jeder Mensch doch, dessen Seel’ nicht stumpf
Visionen, die er schreiben würde,
Wär er in seiner Muttersprach bewandert.
Ob dieser Traum, des Anbeginn nun folgt,
Von Dichter oder Besessenem erdacht, wird erst,
Ist diese warme Hand im Grab,
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