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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Felswände atmen.
    Ich bin kein Dante. Ich suchte keine Beatrice. Meine kurze Aufwallung von Mut – obschon Fatalismus ein treffenderer Ausdruck wäre – war mit dem letzten Tageslicht verschwunden. Ich drehte mich um und rannte die dreißig Schritte zum Eingang des Grabs.
    Da war keine Öffnung mehr. Der Gang hörte einfach auf. Ich hatte keinen Lärm eines Einsturzes oder Erdrutschs gehört, und außerdem sah das Felsgestein, wo der Eingang gewesen war, so uralt und unberührt aus wie der Rest dieser Höhle. Eine halbe Stunde suchte ich nach einem anderen Ausgang, fand keinen, weigerte mich, zu der Treppe zurückzukehren und saß schließlich stundenlang dort, wo der Eingang zu dem Höhlengrab gewesen war. Wieder ein Trick des Shrike. Wieder ein billiger theatralischer Kniff dieses perversen Planeten. Was Hyperion eben für einen guten Witz hielt. Haha!
    Nachdem ich mehrere Stunden lang dort im Halbdunkel gesessen
und zugesehen hatte, wie das Licht am anderen Ende der Höhle lautlos pulsierte, wurde mir klar, dass das Shrike hier nicht zu mir kommen würde. Der Eingang würde sich nicht durch Zauberei wieder auftun. Ich hatte die Wahl, entweder hier sitzen zu bleiben, bis ich verhungerte – oder wahrscheinlicher verdurstete, da ich bereits völlig ausgetrocknet war –, oder diese verdammte Treppe hinunterzugehen.
    Ich ging hinunter.
    Vor Jahren, buchstäblich vor Menschenaltern, als ich die Bikura bei der Kluft am Pinion-Plateau besucht habe, war das Labyrinth, in dem mir das Shrike erschienen war, drei Kilometer unter der Felswand gelegen. Das war dicht an der Oberfläche; fast alle Labyrinthe auf den meisten Labyrinthwelten liegen mindestens zehn Klicks unter der Rinde. Ich hatte keine Zweifel, dass diese endlose Treppe – eine steile, gewundene Spirale aus Steinstufen, so breit, dass zehn Priester nebeneinander in die Hölle hätten hinabsteigen können – im Labyrinth enden würde. Dort hatte mir das Shrike den Fluch der Unsterblichkeit auferlegt. Wenn die Kreatur oder die Macht, die sie beherrschte, einen Sinn für Ironie besaß, wäre es passend gewesen, dass mein unsterbliches und sterbliches Leben dort gleichermaßen ihr Ende fanden.
    Die Treppe wand sich nach unten; das Licht wurde heller – eben noch rosa Glühen, zehn Minuten später grellrot, eine halbe Stunde später und tiefer flackernd scharlachrot. Für meinen Geschmack viel zu dantemäßig und zu viele billige Fundamentalisteneffekte. Ich lachte fast laut beim Gedanken, ein kleiner Teufel mit Schwanz und Dreizack und zuckendem Schnurrbart würde erscheinen.
    Aber ich lachte nicht, als ich die Tiefe erreichte, wo die Ursache des Lichts ersichtlich wurde: Kruziformen, Hunderte, Tausende, Zehntausende, anfangs noch winzig, hafteten an den rauhen Wänden des Treppenhauses wie derbe Kreuze unterirdischer
Conquistadoren, dann größere und immer mehr, bis sie einander fast überlappten, korallenrosa, rot wie rohes Fleisch, blutrot und biolumineszent.
    Mir wurde übel. Es war, als hätte man einen Schacht voll aufgedunsener, pulsierender Egel betreten, nur war dies hier schlimmer. Ich habe die Ultraschall- und K-cross-Bilder des Medscanners von mir mit nur einem von diesen Dingern gesehen: Wuchernde Ganglien durchzogen mein Fleisch und die Organe wie graue Fasern, Stränge zuckender Fasern, Nematodenknäuel wie grässliche Tumore, die nicht einmal die Barmherzigkeit des Todes gewähren. Jetzt hatte ich zwei an mir: Lenar Hoyts und meine eigene. Ich betete, dass ich lieber sterben würde, als noch eine zu ertragen.
    Ich ging weiter nach unten. Nun pulsierte auch Hitze von den Wänden, nicht nur Licht, aber ob aus der Tiefe oder wegen den Kruziformen, die sich zu Tausenden drängten, vermochte ich nicht zu sagen. Schließlich kam ich zur untersten Stufe, das Treppenhaus endete, ich ging um eine letzte Biegung des Gesteins herum und war da.
    Das Labyrinth. Es erstreckte sich vor mir, wie ich es in zahllosen Holos und einmal persönlich gesehen hatte: glatte Tunnel, dreißig Meter Seitenlänge, die vor mehr als einer Dreiviertelmillion Jahren aus der Rinde von Hyperion geschnitten worden waren und den ganzen Planeten durchzogen wie von einem irren Ingenieur geplante Katakomben. Labyrinthe finden sich auf neun Welten, fünf im Netz, die anderen, wie diese, im Outback: Alle sind identisch, alle wurden zur selben Zeit in der Vergangenheit geschaffen, keines bietet Hinweise auf den Grund für ihre Existenz. Legenden über die Labyrinthbaumeister

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