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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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den Tunnel wie Tausende von blasphemischen Witzen säumten. Vielleicht lag es am traurigen Weinen des Windes, der durch die endlosen Korridore aus Stein wehte.
    Mein Leben und meine Lehren und Leiden und kleinen Siege und zahllosen Niederlagen hatten mich hierhergeführt – jenseits von Glauben, jenseits von Anteilnahme, jenseits von einfachem Milton’schen Trotz. Ich hatte das Gefühl, dass diese Menschen eine halbe Million Jahre oder schon länger hier ruhten, sie selbst aber aus unserer Zeit stammten oder, noch schlimmer, aus unserer Zukunft. Ich barg das Gesicht in den Händen und schluchzte.
    Kein Kratzen oder Geräusch warnte mich, aber etwas, irgendetwas, vielleicht ein Lufthauch … Ich blickte auf und gewahrte das Shrike keine zwei Meter entfernt. Nicht auf dem Pfad, sondern inmitten der Leichen: eine Skulptur zu Ehren des Architekten dieser Gemetzel.
    Ich stand auf. Ich wollte vor dieser Scheußlichkeit nicht sitzen oder knien.
    Das Shrike kam mehr gleitend als gehend auf mich zu, es bewegte sich wie auf Gleisen ohne Reibungswiderstand. Das blutrote Licht der Kruziformen ergoss sich über den Quecksilberpanzer. Sein ewiges, unmögliches Grinsen – Stahlstalaktiten, Stahlstalagmiten.

    Ich spürte keinen Groll gegenüber dem Wesen, nur Traurigkeit und Mitleid. Nicht für das Shrike – was immer es sein mochte –, sondern für alle Opfer, die allein und ohne Trost auch des kleinsten Fünkchens Glauben diesem Schrecken in der Nacht entgegentreten mussten, den das Ding verkörperte.
    Zum ersten Mal fiel mir auf, dass aus nächster Nähe ein Geruch von ihm ausging – ein Gestank wie von ranzigem Öl, überhitzten Dichtungen und geronnenem Blut. Die Flammen in seinen Augen pulsierten in völliger Übereinstimmung mit dem An- und Abschwellen des Leuchtens der Kruziformen.
    Ich glaubte vor Jahren nicht, dass dieses Geschöpf übernatürlich sein sollte, eine Manifestation von Gut oder Böse, sondern lediglich eine Abweichung von den unergründlichen und scheinbar sinnlosen Wegen des Universums: ein schrecklicher Witz der Evolution, des Heiligen Teilhard schlimmster Alptraum. Aber dennoch ein Ding , das den Naturgesetzen gehorchte, wie verzerrt auch immer, und einigen Gesetzen des Universums – irgendwo, irgendwann – unterworfen.
    Das Shrike hob die Arme und schlang sie um mich. Die Klingen an den vier Handgelenken waren viel länger als meine Hände, die Klinge auf seiner Brust länger als mein Unterarm. Ich sah ihm in die Augen, während ein Paar Arme voll Stacheldraht und Stahlfedern mich umfing und das andere Paar sich langsam drehte und den schmalen Raum zwischen uns ausfüllte.
    Fingerklingen wurden ausgeklappt. Ich zuckte zusammen, wich aber nicht zurück, als diese Klingen zustießen, mit einem Schmerz gleich kaltem Feuer in meine Brust sanken wie chirurgische Laser, die Nerven durchtrennen.
    Es trat zurück und hielt etwas Rotes umfasst, das mit meinem Blut besudelt war. Ich taumelte und rechnete fast damit, mein Herz in den Klauen des Monsters zu sehen: die letzte Ironie des Toten, der, Sekunden bevor das Blut aus seinem fassungslosen
Gehirn weicht, sein eigenes Herz überrascht blinzelnd betrachtet.
    Aber es war nicht mein Herz. Das Shrike hielt die Kruziform, die ich in der Brust getragen hatte, meine Kruziform, den parasitären Speicher meiner langsam sterbenden DNS. Ich stolperte wieder, stürzte fast, berührte meine Brust. Meine Finger waren blutbesudelt, aber nicht von den arteriellen Sturzfluten, die ein derart grober chirurgischer Eingriff hätte erzeugen müssen; die Wunde heilte vor meinen Augen. Ich wusste , die Kruziform hatte Röhren und Fasern durch meinen ganzen Körper gebohrt. Ich wusste , kein chirurgischer Laser wäre imstande gewesen, diese tödlichen Ranken von Pater Hoyts Körper zu trennen – und nicht von meinem. Aber ich spürte , wie die Krankheit heilte, wie die inneren Stränge trockneten und zu unmerklichen Spuren inneren Narbengewebes schwanden.
    Hoyts Kruziform trug ich immer noch. Aber das war etwas anderes. Wenn ich starb, würde Lenar Hoyt aus dem wiedererweckten Fleisch auferstehen. Ich würde sterben. Es würde keine Duplikate von Paul Duré mehr geben, die mit jeder Generation dümmer und weniger vital sein würden.
    Das Shrike hatte mir den Tod gewährt, ohne mich zu töten.
    Das Ding warf die abkühlende Kruziform in den Haufen der Leichen und umfasste meinen Oberarm, wobei es mühelos durch drei Lagen Stoff schnitt und die federleichte Berührung

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