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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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existieren im Überfluss, aber die mythischen Konstrukteure haben keine Artefakte hinterlassen, keine Hinweise auf ihre Methoden oder ihr außerirdisches Erscheinungsbild, und keine Theorie über die Labyrinthe kann einen logischen
Grund für eines der gigantischsten Bauprojekte nennen, das die Milchstraße je gesehen hat.
    Sämtliche Labyrinthe sind leer. Fernsonden haben Millionen Kilometer der aus dem Stein geschnittenen Korridore erkundet  – die Labyrinthe sind konturlos und absolut leer, abgesehen von den Stellen, an denen Alter und Einbrüche die ursprünglichen Katakomben verändert haben.
    Aber nicht, wo ich jetzt stand.
    Kruziformen beleuchteten eine Szene von Hieronymus Bosch, als ich einen endlosen Korridor entlangsah, endlos, aber nicht leer – nein, nicht leer.
    Zuerst dachte ich, es wären Massen lebender Menschen, ein Fluss von Köpfen und Schultern und Armen, der sich kilometerweit erstreckte, so weit ich sehen konnte, und der Strom der Menschen wurde nur hier und da von geparkten Vehikeln unterbrochen, die alle dieselbe rostbraune Farbe aufwiesen. Doch als ich weiterging und mich der Mauer dichtgepackter Menschen keine zwanzig Meter von mir entfernt näherte, wurde mir klar, dass es sich um Leichen handelte. Zehntausende, Hunderttausende Leichen füllten den Korridor, so weit der Blick reichte; manche lagen ausgestreckt auf dem Steinboden, einige waren an den Wänden zerquetscht worden, aber die meisten wurden vom schieren Druck der auf sie getürmten Toten so dicht gepackt, dass sie diesen Abschnitt des Labyrinths verstopft hatten.
    Da war ein Weg; er führte zwischen den Leichen hindurch, als hätte sich eine Maschine mit Klingen durchgewalzt. Ich folgte ihm, achtete aber sorgfältig darauf, dass ich keinen der ausgestreckten Arme, keines der starren Beine berührte.
    Die Leichen waren die von Menschen, manchenorts noch bekleidet und im Lauf von äonenlanger Verwesung in dieser keimfreien Umgebung mumifiziert: Haut und Fleisch waren ausgetrocknet, hatten sich gespannt und waren gerissen
wie verfaulter Stoff, bis sie nur noch Knochen bedeckten und manchmal nicht einmal mehr das. Haare waren als Strähnen staubigen Teers erhalten geblieben, die so steif wie gehärteter Fiberplastik waren. Schwärze gaffte unter offenen Lidern und zwischen Zähnen hervor. Die Kleidung, die einmal Myriaden Farben gehabt haben musste, war braun oder grau oder schwarz geworden und so spröde wie aus dünnem Stein gehauene Gewänder. Bei im Lauf der Zeit geschmolzenen Plastikklumpen an Handgelenken und Hälsen hätte es sich um Komlogs oder deren Äquivalente handeln können.
    Die großen Fahrzeuge mochten einst EMVs gewesen sein, jetzt aber bestanden sie nur noch aus Rost. Hundert Meter weiter stolperte ich, und damit ich nicht von dem schmalen Pfad abkam und ins Meer der Leichen stürzte, hielt ich mich an einer der großen Maschinen fest, die nur aus Kurven und milchig gewordenen Kuppeln bestand. Der Rosthaufen stürzte in sich zusammen.
    Ich wanderte vergillos, folgte einem grässlichen, aus Menschenfleisch geschnittenen Pfad und fragte mich, warum ich das alles zu sehen bekam, was es bedeuten mochte. Nach einer unbestimmten Zeitspanne, während der ich stolpernd zwischen aufgestapelten Bergen toter Menschen dahinschritt, kam ich an eine Kreuzung von Tunneln; alle drei Korridore vor mir waren voller Leichen. Der schmale Pfad führte in das Labyrinth links von mir. Ich folgte ihm.
    Stunden später, blieb ich stehen und setzte mich auf den schmalen Steinweg, der sich durch das Grauen wand. Wenn sich Zehntausende Tote in diesem kurzen Tunnelabschnitt befanden, musste das Labyrinth von Hyperion Milliarden enthalten. Mehr. Die neun Labyrinthwelten zusammengenommen mussten eine Gruft für Billionen sein.
    Ich hatte keine Ahnung, weshalb mir dieses endgültige Dachau der Seele gezeigt wurde. In der Nähe meines Sitzplatzes
schützte der mumifizierte Leichnam eines Mannes immer noch eine Frauenleiche mit dem zum Knochen ausgezehrten Unterarm. Diese hielt ein kleines Bündel mit kurzem schwarzen Haar in den Armen. Ich wandte mich ab und weinte bitterlich.
    Als Archäologe hatte ich Opfer von Hinrichtungen, Feuersbrünsten, Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüchen ausgegraben. Solche Szenen waren mir nicht neu; sie waren das sine qua non der Geschichte. Aber dies hier war das Grauen. Vielleicht lag es an der Vielzahl; die Toten in ihren Millionen. Vielleicht lag es am seelenstehlenden Glanz der Kruziformen, die

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