Die Hyperion-Gesänge
Zurückhaltung. Offensichtlich denken sie, sie können entführen, wen sie wollen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Sie glauben, wir brauchen sie in der Stunde der Not zu sehr. Und wissen Sie was, Sedeptra?«
»Was?«
»Sie haben recht.« Gladstone schüttelte den Kopf und drehte sich zum langen Abstieg ins Stabszimmer um. »Keine zehn Minuten mehr, bis die Ousters God’s Grove erreichen. Gehen wir runter zu den anderen. Ist mein Treffen mit Ratgeber Albedo unmittelbar danach vereinbart?«
»Ja, Meina. Ich glaube … ich meine, einige von uns sind der Meinung, es wäre zu gefährlich, sie direkt zu konfrontieren.«
Gladstone hielt inne, ehe sie das Stabszimmer betrat. »Warum?« , fragte sie, und diesmal war ihr Lächeln aufrichtig. »Glauben Sie, der Core würde mich verschwinden lassen, so wie Leigh und Severn?«
Akasi wollte etwas sagen, überlegte es sich anders und hielt die Handflächen hoch.
Gladstone berührte die junge Frau an der Schulter. »Wenn ja, Sedeptra, wird es etwas Barmherziges sein. Aber ich glaube nicht, dass sie das wagen. Die Lage hat sich so weit entwickelt, dass sie überzeugt sind, ein Individuum kann nichts mehr am Ausgang der Ereignisse ändern.« Gladstone zog die Hand weg, ihr Lächeln verschwand. »Und damit könnten sie recht haben.«
Die beiden schritten wortlos zum Kreis wartender Militärs und Politiker hinab.
»Der Augenblick rückt näher«, sagte die Wahre Stimme des Weltbaums Sek Hardeen.
Pater Paul Duré wurde aus seinem Nachdenken gerissen. Im Lauf der vergangenen Stunde waren seine Verzweiflung und Hilflosigkeit über Resignation zu etwas geworden, das Freude darüber gleichkam, keine Wahl mehr zu haben, keine Pflichten mehr ausführen zu müssen. Duré hatte in kameradschaftlichem Schweigen neben dem Führer der Bruderschaft der Tempelritter gesessen und zugesehen, wie die Sonne von God’s Grove untergegangen und die Vielfalt der Sterne und Lichter am Himmel, die keine Sterne waren, zum Vorschein gekommen war.
Duré hatte sich gewundert, dass der Tempelritter in einem so entscheidenden Augenblick von seinem Volk isoliert war, aber soweit er die Theologie der Tempelritter kannte, würden die Anhänger des Muir allein an ihren heiligsten Stätten und
auf den geheimsten Plattformen ihrer heiligsten Orte auf so einen Augenblick potenzieller Zerstörung warten. Und aufgrund gelegentlicher leiser Bemerkungen Hardeens unter dem Schutz der Robe wusste Duré, dass die Wahre Stimme mittels Komlog oder Implantat mit anderen Brüdern in Verbindung stand.
Es war eine friedliche Möglichkeit, auf das Ende der Welt zu warten; hoch oben auf dem höchsten Baum der Galaxis, wo man hören konnte, wie die warme Abendbrise durch Millionen Hektar Blätter strich, und sah, wie die Sterne funkelten und Zwillingsmonde über einen samtenen Himmel zogen.
»Wir haben Gladstone und die Behörden der Hegemonie gebeten, keinen Widerstand zu leisten, keine Kriegsschiffe im System zu dulden«, sagte Sek Hardeen.
»Ist das klug?«, fragte Duré. Hardeen hatte ihm eben das Schicksal von Heaven’s Gate geschildert.
»Die Flotte von FORCE ist noch nicht so weit organisiert, dass sie ernsten Widerstand bieten könnte«, entgegnete der Tempelritter. »Auf diese Weise hat unsere Welt wenigstens die Möglichkeit, dass sie als neutral eingestuft wird.«
Pater Duré nickte und beugte sich vor, damit er die große Gestalt im Schatten der Plattform besser sehen konnte. Schwache Leuchtkugeln in den Zweigen unter ihnen waren die einzigen Lichtquellen, abgesehen vom Funkeln der Sterne und dem Leuchten der Monde. »Und doch haben Sie diesen Krieg herbeigesehnt. Haben den Verantwortlichen des Shrike-Kults geholfen, ihn anzuzetteln.«
»Nein, Duré. Nicht den Krieg. Die Bruderschaft wusste, dass er Teil der Großen Veränderung sein musste.«
»Und die wäre?«, fragte Duré.
»Die Große Veränderung kommt, wenn die Menschheit ihre Rolle als Teil der natürlichen Ordnung im Universum akzeptiert, statt wie Krebs zu sein.«
»Krebs?«
»Eine uralte Krankheit, die …«
»Ja«, sagte Duré. »Ich weiß, was Krebs war. Wieso ist sie wie die Menschheit?«
Sek Hardeens wohlmodulierte, schwach akzentuierte Stimme ließ eine Andeutung von Erregung erkennen. »Wir haben uns in der Galaxis ausgebreitet wie Krebszellen in einem lebenden Organismus, Duré. Wir vermehren uns, ohne an die zahllosen Lebensformen zu denken, die sterben müssen oder an den Rand gedrängt werden, damit wir uns
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