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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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wiederholten. Licht von der Farbe und Beschaffenheit gerinnenden Blutes warf den riesigen Schatten des Kreuzes an die gegenüberliegende Wand.
    »Du gehörst von nun an bis in alle Ewigkeit zur Kruziform«, ertönte der Gesang, während draußen der Wind anschwoll und die Orgelpfeifen des Canyons mit der Stimme eines gequälten Kindes wimmerten.
    Als die Bikura zu singen aufhörten, flüsterte ich kein »Amen«. Ich blieb stehen, während sich die anderen mit der plötzlichen und gründlichen Gleichgültigkeit verzogener Kinder abwandten, die das Interesse an ihrem Spiel verloren hatten.
    »Es gibt keinen Grund zu bleiben«, sagte Beta, als die anderen gegangen waren.
    »Ich will aber«, sagte ich und erwartete einen Befehl, mich
zu entfernen. Doch Beta drehte sich ohne ein Achselzucken um und ließ mich stehen. Das Licht wurde düsterer. Ich ging nach draußen, um den Sonnenuntergang zu betrachten, und als ich wieder hineinkam, hatte es angefangen.
    Vor Jahren habe ich einmal in der Schule ein Zeitrafferholo einer verwesenden Kängurumaus gesehen. Eine Woche langsames Recyceln der Natur war auf dreißig Sekunden des Grauens beschleunigt worden. Das Fleisch des kleinen Leichnams blähte sich fast komisch auf, dann streckte sich die Haut, Wunden traten auf, gefolgt vom plötzlichen Auftauchen von Maden in Mund und Augen, offene Schwären, und zuletzt dann das korkenzieherartige Abschälen des Fleisches von den Knochen  – kein anderer Ausdruck passt zu dem Bild –, als die Maden in einer Zeitrafferhelix des Aasverzehrs von rechts nach links, vom Kopf zum Schwanz wuselten und nichts als Knochen und Knorpel und Haut übrigließen.
    Jetzt betrachtete ich den Leichnam eines Menschen.
    Ich blieb stehen und sah fassungslos zu, während das letzte Licht allmählich erlosch. In der hallenden Stille der Basilika war kein Laut zu hören, abgesehen vom Pochen des Pulsschlags in meinen Ohren. Ich beobachtete, wie Alphas Leichnam erst zuckte und dann sichtlich vibrierte und in den brutalen Spasmen der Verwesung beinahe vom Altar levitierte. Ein paar Sekunden schien die Kruziform größer, ihre Farbe leuchtender zu werden, bis sie wie rohes Fleisch glühte, und da bildete ich mir ein, einen flüchtigen Blick auf das Netz von Fasern und Nematoden zu erhaschen, das den verwesenden Leichnam zusammenhielt wie ein Metallgitter die Gussform eines Bildhauers. Das Fleisch schmolz.
    Ich blieb in dieser Nacht in der Basilika. Der Abschnitt rings um den Altar wurde weiter vom Leuchten der Kruziform auf Alphas Brust erhellt. Wenn sich der Leichnam bewegte, warf das Licht seltsame Schatten an die Wände.

    Ich verließ die Basilika nicht, bis auch Alpha sie am dritten Tag verließ, aber die meisten sichtbaren Veränderungen waren nach dieser ersten Nacht zu Ende. Der Leichnam des Bikura, den ich Alpha genannt hatte, wurde vor meinen Augen abgerissen und neu aufgebaut. Der Leichnam, der zurückblieb, war nicht ganz Alpha und nicht ganz nicht Alpha, aber er war unversehrt. Das Gesicht war wie das Gesicht einer Plastikpuppe, glatt und ohne Linien, die Züge zu einem leichten Lächeln erstarrt. Bei Sonnenaufgang des dritten Tages sah ich, wie sich die Brust des Leichnams hob und senkte und hörte den ersten Atemzug – ein Geräusch, als würde Wasser in einen Lederschlauch gegossen. Kurz vor Mittag verließ ich die Basilika und kletterte die Ranken hoch.
    Ich folgte Alpha.
    Er hat nicht gesprochen, antwortet nicht. Seine Augen blicken starr und verschwommen, gelegentlich bleibt er stehen, als würde er ferne Stimmen rufen hören.
    Niemand schenkte uns Beachtung, als wir ins Dorf zurückkehrten. Alpha ging in eine Hütte, dort sitzt er jetzt. Ich sitze in meiner. Vor einer Minute habe ich mein Gewand geöffnet und mit den Fingern über den Wulst der Kruziform gestrichen. Sie liegt gnädig unter der Haut meiner Brust. Und wartet.
     
    TAG 140:
    Ich erhole mich von meinen Verletzungen und dem Blutverlust. Es kann auch nicht mit einem geschliffenen Stein herausgeschnitten werden.
    Es mag keine Schmerzen. Ich habe das Bewusstsein verloren, lange bevor Schmerzen oder Blutverlust es verursacht haben können. Jedes Mal, wenn ich aufwachte und wieder zu schneiden anfing, wurde ich bewusstlos gemacht. Es mag keine Schmerzen.

     
    TAG 158:
    Alpha spricht jetzt ein wenig. Er scheint träger, langsamer und nur vage bei Bewusstsein zu sein, wenn ich bei ihm bin (oder ein anderer bei ihm ist), aber er isst und bewegt sich. Ja, er scheint mich bis zu einem

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