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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gewissen Grad zu erkennen. Der Medscanner zeigt Herz und innere Organe eines jungen Mannes  – möglicherweise eines sechzehnjährigen Knaben.
    Ich muss noch einen Hyperionmonat und zehn Tage – insgesamt rund fünfzig Tage – warten, bis die Flammenwälder so ruhig werden, dass ich ein Durchkommen versuchen kann, Schmerzen hin oder her. Wir werden sehen, wer mehr Schmerzen ertragen kann.
     
    TAG 173:
    Wieder ein Todesfall.
    Der, den ich Will nenne – der mit dem gebrochenen Finger  –, war seit einer Woche vermisst. Gestern gingen die Bikura mehrere Kilometer nach Nordosten, als würden sie einem Fanal folgen, und fanden die sterblichen Überreste nahe einer tiefen Schlucht.
    Offenbar ist ein Ast abgebrochen, auf den er geklettert war, um Chalmawedel zu pflücken. Er muss sofort tot gewesen sein, da er sich das Genick gebrochen hat, aber wichtig ist, wohin er gestürzt ist. Der Leichnam – wenn man ihn so nennen kann – lag zwischen zwei großen Lehmkegeln, bei denen es sich um die Stöcke großer, roter Insekten handelt, die Tuk als Feuerameisen bezeichnet hat; Teppichkäfer wäre eine passendere Bezeichnung gewesen. In den vergangenen Tagen hatten die Insekten den Leichnam bis auf die Knochen abgenagt. Es war wenig übrig, abgesehen vom Skelett, ein paar vereinzelte Fetzen Knorpel und Sehnen – und die Kruziform, die noch auf der Brust saß wie ein prunkvolles Kreuz, das in den Sarkophag eines längst verstorbenen Papstes gelegt wurde.

    Es ist schrecklich, aber bei aller Trauer kann ich ein kleines Triumphgefühl nicht unterdrücken: Die Kruziform kann unmöglich etwas aus diesen nackten Gebeinen regenerieren; selbst die schreckliche Unlogik dieses verfluchten Parasiten muss sich an das zwingende Gesetz von der Erhaltung der Masse halten. Der Bikura, den ich Will genannt habe, ist den wahren Tod gestorben. Von diesem Tage an sind die Fünf Dutzend und Zehn wahrhaftig die Fünf Dutzend und Neun.
     
    TAG 174:
    Ich bin ein Narr.
    Heute habe ich nach Will gefragt, nach der Tatsache, dass er den wahren Tod gestorben ist. Die fehlende Reaktion der Bikura hat mich neugierig gemacht. Sie haben die Kruziform mitgenommen, aber das Skelett liegenlassen, wo sie es gefunden haben; niemand hat versucht, das Skelett zur Basilika zu tragen. In der Nacht habe ich mir Sorgen gemacht, man würde mich zwingen, die Rolle des fehlenden Mitglieds der Fünf Dutzend und Zehn zu übernehmen. »Es ist sehr traurig«, sagte ich, »dass einer von euch den wahren Tod gestorben ist. Was wird nun aus den Fünf Dutzend und Zehn werden?«
    Beta starrte mich an. »Er kann den wahren Tod nicht sterben«, sagte der kahle kleine Androgyne. »Er gehört zur Kruziform.«
    Kurz darauf, als ich mein Medscanning des Stammes fortsetzte, fand ich die Wahrheit heraus. Derjenige, den ich Theta genannt habe, sieht gleich aus und benimmt sich auch gleich, trägt aber nun zwei Kruziformen in sein Fleisch eingebettet. Ich zweifle nicht daran, dass dieser Bikura in den kommenden Jahren zur Korpulenz neigen, anschwellen und reifen wird wie obszöne E. coli in einer Petrischale. Wenn er/sie/es stirbt, werden zwei das Grab verlassen und die Fünf Dutzend und Zehn werden wieder komplett sein.
    Ich glaube, ich verliere den Verstand.

     
    TAG 195:
    Wochenlanges Studium des verfluchten Parasiten und immer noch kein Hinweis, wie er funktioniert. Schlimmer: Es kümmert mich auch nicht mehr. Was mich momentan kümmert, ist wichtiger.
    Warum hat Gott diese Obszönität zugelassen?
    Warum sind die Bikura so bestraft worden?
    Warum wurde ich auserwählt, ihr Schicksal zu teilen?
    Ich stelle diese Fragen in nächtlichen Gebeten, aber ich höre keine Antworten, nur den Blutgesang des Windes aus der Kluft.
     
    TAG 214:
    Die letzten zehn Seiten müssten meine sämtlichen Forschungsaufzeichnungen und technischen Daten enthalten. Dies wird mein letzter Eintrag, bevor ich mich morgen in den ruhenden Flammenwald wage.
    Es kann kein Zweifel mehr bestehen, dass ich die absolute Krone stagnierender menschlicher Gesellschaften gefunden habe. Die Bikura haben den Menschheitstraum von der Unsterblichkeit verwirklicht und dafür mit ihrer Menschlichkeit und ihren unsterblichen Seelen bezahlt.
    Edouard, ich habe viele Stunden mit meinem Glauben gekämpft – meinem verlorenen Glauben –, aber jetzt, in dieser furchteinflößenden Ecke eines so gut wie vergessenen Planeten und mit diesem verabscheuungswürdigen Parasiten geschlagen, habe ich eine Kraft des Glaubens

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