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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Lymphozytwert sind normal. Es sind keine Fremdkörper eingedrungen. Laut Scanner sind die Nematodenfasern die Folge zahlreicher, aber einfacher Metastasen. Laut Scanner besteht die Kruziform selbst aus verwandtem Gewebe … meine DNS!
    Ich gehöre zur Kruziform.
     
    TAG 116:
    Jeden Tag schreite ich die Grenzen meines Käfigs ab: die Flammenwälder im Süden und Osten, die bewaldeten Schluchten im Nordosten und die Kluft im Norden und Westen. Die Fünf Dutzend und Zehn lassen mich nicht weiter als zur Basilika in die Kluft hinuntersteigen. Die Kruziform lässt nicht zu, dass ich mich mehr als zehn Kilometer von der Kluft entferne.
    Das konnte ich anfangs nicht glauben. Ich hatte beschlossen, in den Flammenwald einzudringen und auf mein Glück und Gottes Hilfe zu vertrauen, die schon dafür sorgen würde, dass ich heil durchkam. Aber ich war kaum zwei Kilometer in die Ausläufer des Waldes eingedrungen, als ich Schmerzen in Brust, Armen und Kopf bekam. Ich war sicher, dass ich einen Herzanfall hatte. Doch kaum hatte ich mich wieder zur Kluft
umgedreht, ließen die Symptome nach. Ich experimentierte eine Weile, und die Resultate waren stets dieselben: Jedes Mal, wenn ich in den Flammenwald und weg von der Kluft ging, kamen die Schmerzen zurück und wurden schlimmer – bis ich mich wieder umdrehte.
    Ich begreife langsam auch anderes. Gestern stieß ich auf das Wrack des ursprünglichen Saatschifflandungsboots, als ich den Norden erkundete. Nur ein verrostetes, von Reben überwuchertes Wrack liegt noch zwischen den Felsen am Rand des Flammenwalds bei der Schlucht. Aber als ich vor den bloßliegenen Metallrippen des uralten Schiffs kauerte, konnte ich mir den Jubel der siebzig Überlebenden vorstellen, ihren kurzen Ausflug zur Kluft, ihre Entdeckung der Basilika und … und was? Spekulationen über diesen Punkt hinaus sind vergeblich, aber Mutmaßungen bleiben. Morgen werde ich noch einmal versuchen, einen der Bikura medizinisch zu untersuchen. Da ich jetzt »zur Kruziform gehöre«, haben sie vielleicht nichts mehr dagegen.
    Ich nehme jeden Tag ein Medscanning an mir selbst vor. Die Nematoden bleiben – sie sind möglicherweise dicker, möglicherweise auch nicht. Ich bin überzeugt, dass sie rein parasitär sind, auch wenn mein Körper keinerlei Symptome dafür zeigt. Ich betrachte mein Gesicht im Teich beim Wasserfall und sehe nur dasselbe lange, alternde Antlitz, das mir in den letzten Jahren so sehr missfällt. Als ich heute Morgen mein Ebenbild im Wasser betrachtete, machte ich den Mund weit auf und rechnete halb damit, graue Fasern und Nematodenbüschel vom Gaumen und aus dem Hals wachsen zu sehen. Doch da war nichts.
     
    TAG 117:
    Die Bikura sind geschlechtslos. Nicht zölibatär oder hermaphroditisch oder unreif – geschlechtslos. Sie haben ebenso wenig
äußere wie innere Genitalien wie die Plastikpuppe eines Kindes. Nichts deutet darauf hin, dass der Penis oder die Hoden oder vergleichbare weibliche Organe verkümmert sind oder chirurgisch verändert wurden. Nein, gibt kein Anzeichen, dass sie je existiert haben! Urin wird durch einen primitiven Harnleiter gesammelt, der in einer kleinen Blase in der Nachbarschaft des Anus endet – eine Art krude Kloake.
    Beta hat die Untersuchung zugelassen. Der Medscanner hat bestätigt, was meine Augen nicht glauben wollten. Del und Theta haben ebenfalls eingewilligt, sich scannen zu lassen. Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass der Rest der Fünf Dutzend und Zehn ebenso geschlechtslos ist. Nichts deutet darauf hin, dass sie … verändert worden sind. Ich würde sagen, dass sie alle so geboren wurden. Aber von welchen Eltern? Und wie gedenken diese geschlechtslosen Klumpen menschlichen Tons, sich zu vermehren? Das muss auf irgendeine Weise mit der Kruziform zusammenhängen.
    Als ich mit meinen Medscannings fertig war, habe ich mich ausgezogen und selbst untersucht. Die Kruziform wölbt sich auf meiner Brust wie rosa Narbengewebe, aber ich bin noch ein Mann.
    Wie lange noch?
     
    TAG 133:
    Alpha ist tot.
    Ich war vor drei Tagen morgens bei ihm, als er gestürzt ist. Wir waren etwa drei Kilometer im Osten und suchten Chalmaknollen zwischen den großen Felsbrocken am Rand der Kluft. Es hatte fast zwei Tage geregnet, die Felsen waren schlüpfrig. Ich selbst hielt mühsam das Gleichgewicht, sah auf und erblickte Alpha, der den Halt verlor, eine breite Steinplatte hinabrutschte und über den Rand fiel. Er schrie nicht. Der einzige Laut war das Ratschen seines

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