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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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einem Regenbogen von fast furchteinflößender Farbe und Festigkeit.

40
    Es ist später Vormittag, als Hunt mich weckt. Er kommt mit Frühstück auf einem Tablett und einem ängstlichen Ausdruck in den dunklen Augen.
    Ich frage: »Woher haben Sie das Essen?«
    »Unten im vorderen Zimmer ist eine Art Restaurant. Dort hat das Essen gewartet, aber keine Menschenseele.«
    Ich nicke. »Signora Angelettis kleine Trattoria«, sage ich, »Sie ist keine gute Köchin.« Ich erinnere mich an Dr. Clarks Besorgnis hinsichtlich meiner Ernährung; er war der Überzeugung, dass die Schwindsucht sich im Magen eingenistet hatte, und
setzte mich auf eine strenge Diät von Milch und Brot und gelegentlich etwas Fisch. Seltsam, wie viele leidende Angehörige des Menschengeschlechts der Ewigkeit besessen von ihren Eingeweiden, wundgelegenen Stellen und ihrer Diät entgegengesehen haben.
    Ich sehe wieder zu Hunt auf. »Was ist es?«
    Gladstones Attaché ist ans Fenster gegangen und scheint in den Anblick der Piazza unten versunken zu sein. Ich kann Berninis verfluchten Brunnen plätschern hören. »Ich war spazieren, während Sie geschlafen haben«, sagt Hunt langsam, »falls Leute unterwegs sein würden. Oder ein Telefon oder Farcaster.«
    »Gewiss«, sage ich.
    »Ich war gerade vor … der …« Er dreht sich um und leckt sich die Lippen. »Da draußen ist etwas, Severn. Auf der Straße, unten an der Treppe. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, es ist …«
    »Das Shrike«, sage ich.
    Hunt nickt. »Haben Sie es gesehen?«
    »Nein, aber es überrascht mich nicht.«
    »Es … es ist grässlich, Severn. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich es sehe. Hier … man kann es gerade noch im Schatten auf der anderen Seite der Treppe erkennen.«
    Ich will aufstehen, aber ein plötzlicher Hustenanfall und das Gefühl von Schleim, der mir in Brust und Hals emporquillt, veranlassen mich, mich wieder auf die Kissen zu legen. »Ich weiß, wie es aussieht, Hunt. Keine Bange, es ist nicht Ihretwegen hier.« Meine Stimme klingt zuversichtlicher, als mir zumute ist.
    »Ihretwegen?«
    »Das glaube ich nicht«, sage ich schwer atmend. »Ich glaube, es ist nur hier um aufzupassen, dass ich nicht weggehe … nicht einen anderen Ort zum Sterben suche.«

    Hunt kommt zum Bett zurück. »Sie werden nicht sterben, Severn.«
    Ich sage nichts.
    Er setzt sich auf den Lehnstuhl neben dem Bett und hebt eine kalt gewordene Tasse Tee. »Wenn Sie sterben, was wird dann aus mir?«
    »Ich weiß es nicht«, sage ich aufrichtig. »Wenn ich sterbe, weiß ich nicht einmal, was aus mir wird.«
     
    Ernsten Krankheiten ist ein gewisser Solipsismus eigen, der die gesamte Aufmerksamkeit so sicher auf sich zieht, wie ein Schwarzes Loch alles ergreift, das sich unglücklicherweise in seinen kritischen Radius verirrt. Der Tag vergeht langsam, und ich bemerke überdeutlich die Bewegung des Sonnenlichts auf der rauhen Wand, das Gefühl des Lakens unter meiner Handfläche, das Fieber, das wie Übelkeit in mir emporsteigt und sich im Hochofen meines Verstandes ausbrennt, und am deutlichsten die Schmerzen. Nicht mehr meine Schmerzen – ein paar Stunden oder Tage sind meine zugeschnürte Kehle und das Brennen in der Brust erträglich und werden fast wie ein unbeliebter Freund willkommen geheißen, dem man in einer fremden Stadt begegnet –, sondern die Schmerzen der anderen … aller anderen. Sie bombardieren mein Denken wie der Lärm von berstendem Schiefer, wie Hämmer, die immer wieder auf einen Amboss geschlagen werden, und es gibt kein Entrinnen davor.
    Mein Gehirn empfängt sie als Krach und wandelt sie in Poesie um. Tag und Nacht strömt der Schmerz des Universums in mich ein und wandert durch die fiebrigen Korridore meines Denkens – als Verse, Bilder, Bilder in Versen, als komplexer, immerwährender Tanz der Sprache, mal besänftigend wie ein Flötensolo, mal schrill und abgehackt und verwirrend wie von einem Dutzend Orchestern beim Stimmen, aber immer Verse, immer Poesie.

    Irgendwann gegen Sonnenuntergang erwache ich aus einem Dösen, zerschmettere den Traum von Oberst Kassad, der mit dem Shrike um das Leben von Sol und Brawne Lamia kämpft, und sehe Hunt am Fenster, wo das Abendlicht seinem Gesicht die Farbe von Terrakotta verleiht.
    »Ist es noch da?«, frage ich, und meine Stimme klingt wie das Raspeln einer Feile auf Stein.
    Hunt zuckt zusammen, dann dreht er sich mit um Nachsicht bittendem Lächeln und dem ersten Erröten seines mürrischen Antlitzes, das ich

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