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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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französischen Toten – wenn man die Toten überhaupt noch weiter beleidigen konnte – lag in der Tatsache begründet, dass die englischen Bogenschützen nicht nur gewöhnliches Volk waren, gewöhnlich im niedersten, verlaustesten Sinn des Wortes, sondern obendrein Einberufene. Stoppelhopser. GIs. Kanonenfutter. Spezzes. K-techs. Sprungratten.
    Doch das alles gehörte zur Lektion, die Kassad während dieser MAO:HTN-Übung lernen sollte.
    Er lernte nichts davon. Er war zu sehr mit einer Begegnung beschäftigt, die sein Leben verändern sollte.

     
    Der französische Reiter flog über den Kopf seines stürzenden Pferdes, rollte sich einmal ab und war aufgesprungen und in Richtung Wald davongerannt, bevor der aufgespritzte Schlamm wieder zu Boden gefallen war. Kassad folgte ihm. Er hatte die Hälfte der Strecke zum Waldrand zurückgelegt, als er feststellte, dass der Junge und der grauhaarige Bogenschütze nicht mit ihm gekommen waren. Einerlei. Kassads Adrenalin floss in Strömen, der Blutrausch hatte ihn gepackt.
    Der Bewaffnete, der gerade von einem Pferd in gestrecktem Galopp abgeworfen worden war und eine sechzig Pfund schwere, ihn unbeholfen machende Rüstung trug, hätte eigentlich eine leichte Beute sein sollen. Aber das war er nicht. Der Franzose sah sich einmal um, sah Kassad in vollem Lauf mit einer Streitaxt in der Hand und Mordlust in den Augen auf sich zugerannt kommen, legte noch einmal einen Zahn zu und erreichte den Waldrand fünfzehn Meter vor seinem Verfolger.
    Kassad war schon tief im Wald, ehe er stehenblieb, sich auf die Streitaxt lehnte und keuchend seine Lage überdachte. Poltern, Schreie und Klirren vom Schlachtfeld hinter ihm wurden durch Entfernung und Gestrüpp gedämpft. Die Bäume waren fast kahl und tropften noch von dem Gewitter der vergangenen Nacht; der Waldboden war von einem dicken Teppich aus abgefallenen Laub, Dornranken und Büschen bedeckt. Der Soldat hatte die ersten zwanzig Meter oder so eine Spur von abgebrochenen Zweigen und Fußstapfen hinterlassen, aber jetzt machten es Wildpfade und zugewucherte Wege schwer, seinen Spuren zu folgen.
    Kassad schritt vorsichtig tiefer in den Wald hinein und versuchte, über seinem Keuchen und dem Klopfen seines Herzens auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu lauschen. Er überlegte sich, dass dies taktisch gesehen keine brillante Vorgehensweise war; der Franzose hatte Rüstung und Schwert
getragen und konnte seine Panik jeden Augenblick vergessen, den vorübergehenden Verlust der Ehre bedauern und sich an seine Jahre der Gefechtsausbildung erinnern. Kassad war ebenfalls ausgebildet. Er betrachtete sein Stoffhemd und die Lederweste. Die Streitaxt hatte er in der Hand, das Messer im breiten Gürtel. Er war ausgebildet worden, Hochenergiewaffen mit einer Reichweite von wenigen Metern bis zu Tausenden von Kilometern zu bedienen. Er konnte mit Plasmagranaten umgehen, mit Höllenpeitschen, Fleschettgewehren, Ultraschallpistolen, rückstoßfreien Null-ge-Waffen, Todesstrahlern, kinetischen Angriffsgewehren und Strahlenfächern. Und jetzt wusste er auch, wie ein englischer Langbogen funktionierte. Aber nichts davon – nicht einmal den Langbogen  – hatte er im Augenblick bei sich.
    »O Scheiße«, murmelte der Zweite Leutnant Kassad.
    Der Ritter kam aus den Büschen wie ein angreifender Bär, Arme erhoben, Beine gespreizt, und schwang das Schwert in einem Halbkreis, mit dem er Kassad ausweiden wollte. Der Kadett der Militärakademie versuchte, nach hinten zu springen und gleichzeitig die Streitaxt zu heben. Keiner der beiden Versuche war ganz erfolgreich. Das Schwert des Franzosen schlug Kassad die schwere Axt aus der Hand, während die stumpfe Schwertspitze durch Leder, Hemd und Haut ritzte.
    Kassad heulte und stolperte weiter rückwärts, wobei er am Messer in seinem Gürtel zerrte. Er stieß mit dem rechten Absatz gegen den Ast eines umgestürzten Baums, kippte nach hinten, fluchte und rollte sich tiefer in die Zweige, während der Ritter auf ihn zugestapft kam und mit dem Schwert Zweige wie mit einer großen Machete abmähte. Bis der Mann sich einen Weg durch das Gestrüpp gebahnt hatte, hatte Kassad das Messer gezückt, aber die zehn Zoll lange Klinge war eine armselige Waffe gegen eine Rüstung, wenn der Ritter nicht hilflos war. Und dieser Ritter war nicht hilflos. Kassad wusste,
dass er ihm niemals näher als der Reichweite seines Schwertes kommen würde. Seine einzige Hoffnung war die Flucht, aber der Stamm des umgestürzten Baums

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