Die Hyperion-Gesänge
Mnemosyne. Welcher Name dir besser gefällt.«
»Moneta«, flüsterte Kassad. Er sah zu der kleinen Sonne auf, die am lapislazulifarbenen Himmel aufging. »Ist dies Hyperion?«
»Ja.«
»Wie bin ich gelandet? Schwebefelder? Fallschirm?«
»Du bist unter einem Dach aus Goldfolie gelandet.«
»Ich habe keine Schmerzen. Bin ich nicht verletzt worden?«
»Du wurdest versorgt.«
»Was ist das für ein Ort?«
»Die Stadt der Dichter. Vor mehr als einhundert Jahren verlassen. Hinter dem Hügel dort liegen die Zeitgräber.«
»Was ist mit den Angriffsbooten der Ousters, die mir gefolgt sind?«
»Eines ist in der Nähe gelandet. Der Herr der Schmerzen hat die Besatzung für sich selbst beansprucht. Die beiden anderen sind in einiger Entfernung niedergegangen.«
»Wer ist der Herr der Schmerzen?«
»Komm«, sagte Moneta. Die tote Stadt hörte an der Wüste auf. Feiner Sand rieselte über halb in Dünen vergrabenen weißen Marmor. Im Westen stand ein Landungsboot der Ousters mit offenem Irisschott. In der Nähe ein Thermokubus mit heißem Kaffee und frischgebackenen Brötchen auf einer umgestürzten Säule. Sie aßen und tranken schweigend.
Kassad bemühte sich, sich die Legenden um Hyperion ins Gedächtnis zurückzurufen. »Der Herr der Schmerzen ist das Shrike«, sagte er.
»Gewiss.«
»Stammst du aus … aus der Stadt der Dichter?«
Moneta lächelte und schüttelte den Kopf.
Kassad trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse weg. Das Gefühl, dass er sich in einem Traum befand, war stärker, als er es jemals in einer Sim verspürt hatte. Doch der Kaffee hatte angenehm bitter geschmeckt, und die Sonne schien warm auf sein Gesicht und die Hände.
»Komm, Kassad!«, sagte Moneta.
Sie überquerten eine Ausdehnung kalten Sands. Kassad sah himmelwärts und wusste, das Schlachtschiff der Ousters konnte sie aus dem Orbit beseitigen – aber dann wusste er mit plötzlicher Gewissheit, dass sie das nicht tun würden.
Die Zeitgräber lagen in einem Tal. Ein kleiner Obelisk glühte sanft. Eine Steinsphinx schien das Licht zu absorbieren. Eine komplexe Struktur aus Säulen warf Schatten auf sich selbst. Andere Gräber hoben sich als Silhouette vor der aufgehenden Sonne ab. Jedes Grab hatte eine Tür, und jede Tür war offen. Kassad wusste, sie waren schon offen gewesen, als die Forscher die Gräber entdeckt hatten, und dass die Bauwerke leer waren. Mehr als drei Jahrhunderte langes Suchen nach verborgenen Räumen und Durchgängen war vergeblich gewesen.
»Weiter kannst du nicht gehen«, sagte Moneta, als sie sich der Klippe am Kopf des Tals näherten. »Die Gezeiten der Zeit sind heute stark.«
Kassads taktisches Implantat war stumm. Er hatte kein Komlog. Er kramte in seinen Erinnerungen. »Es sind Anti-Entropie-Kraftfelder um die Zeitgräber herum«, sagte er.
»Ja.«
»Die Gräber sind uralt. Die Anti-Entropiefelder verhindern, dass sie altern.«
»Nein«, sagte Moneta. »Die Gezeiten der Zeit treiben die Gräber rückwärts durch die Zeit.«
»Rückwärts durch die Zeit?«, wiederholte Kassad verwirrt.
»Schau!«
Schimmernd, einer Fata Morgana gleich, tauchte ein Baum aus Stahldornen aus dem Staubsturm ockerfarbenen Sands auf. Er schien das gesamte Tal auszufüllen und reichte mindestens zweihundert Meter hoch bis zur Höhe der Klippen. Zweige veränderten sich, lösten sich auf und entstanden neu wie die Elemente eines schlecht eingestellten Hologramms. Sonnenlicht tanzte auf fünf Meter langen Dornen. Leichen von Oustermännern und -frauen, sämtlich nackt, waren auf mindestens zwanzig dieser Dornen aufgespießt. Auf anderen Zweigen befanden sich weitere Leichen. Nicht alle waren menschlich.
Der Sandsturm verdeckte den Blick für einen Moment, und als der Wind nachließ, war die Vision fort. »Komm!«, sagte Moneta.
Kassad folgte ihr durch die Ausläufer der Gezeiten der Zeit und wich Ebbe und Flut der Anti-Entropiefelder aus wie ein Kind, das die an einem breiten Strand Fangen mit der Meeresbrandung spielt. Er spürte, wie der Sog der Gezeiten wie Wogen eines déjà vu an jeder Zelle seines Körpers zerrte.
Kurz nach dem Zugang zum Tal, wo die Hügel in Dünen übergingen und flache Moore zur Stadt der Dichter führten, berührte Moneta eine blaue Schieferwand, worauf sich ein Eingang zu einem langen in der Klippe eingelassenen Raum öffnete.
»Wohnst du hier?«, fragte Kassad, sah aber im selben Moment, dass der Raum unbewohnt wirkte. In die Steinwände des Raums waren Regale und enge Nischen
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