Die in der Hölle sind immer die anderen
dabei blickte er tief in den Ausschnitt der Verteidigerin, „daß der Angeklagte für den Tatzeitpunkt kein Alibi hat.“
Noch einmal versuchte die Verteidigerin es mit Schirra.
„Wie lange haben Sie meinen Mandanten verhört?
„Das steht doch im Protokoll. Da steht sogar drin, wann er einen Kaffee getrunken hat, wann er aufs Klo gegangen ist und wie lange er dafür gebraucht hat.“
„Ich will es aber von Ihnen wissen.“
„Vorschriftsmäßig.“
„Könnte es sein, daß Sie den Angeklagten oder Herrn Faye körperlich bedroht oder ermüdet haben? Sie wissen, daß nach Paragraph 136 a StPO Vernehmungsmittel wie ...“
„Ich kenne den 136 a mindestens so gut wie Sie, und die Antwort ist nein“, sagte Schirra und zeigte auf Nicolai, der wie immer auf den Boden starrte. „Wenn ich ihn körperlich bedroht hätte, dann würde er jetzt nicht so nett in seinem Konfirmationsanzug da sitzen und in die Runde lächeln.“
An dieser Stelle kam es zu Unruhe im Saal. Leute klatschten und johlten.
„Ich bitte um Ruhe“, sagte der Vorsitzende und wandte sich dann an Schirra: „Würden Sie bitte die Frage der Verteidigung beantworten!“
„Ich habe die Frage beantwortet. Die Antwort ist nein, und ich werde keine weiteren derartigen Fragen mehr beantworten.“
„Sie werden die Fragen beantworten“, sagte der Vorsitzende mit hörbar beherrschter Stimme, „die Ihnen von diesem Gericht, von der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gestellt werden.“
„Ich werde die Fragen dieses Gerichtes und der Staatsanwaltschaft so gut beantworten, wie ich kann. Ich werde aber keine weiteren Fragen der Verteidigung beantworten, wenn diese Fragen nur dazu dienen, Berufsausübung und Ansehen der saarländischen Polizei in den Schmutz zu ziehen.“
Der Richter nickte Schirra schweigend zu und bedeutete dann der Verteidigerin mit einem Wink seiner Hand, fortzufahren. Andrea Zitzelsberger war sichtbar durcheinander. Sie versuchte zweimal einen Ordner vom Boden aufzuheben, und zweimal fiel er ihr wieder hinunter. Sie stellte Schirra noch drei oder vier Fragen, die sich alle mit ja oder nein beantworten ließen, vermied es aber, ihn dabei nochmals anzusehen. Damit war der fünfte Verhandlungstag vorüber.
Damals, während des Prozesses, war ich froh über Schirras Auftritt, den er, wie er später zugab, sorgfältig einstudiert hatte. Für mich war das ein Zeichen, daß Michael und ich noch Freunde hatten. Schirra war ein hohes persönliches Risiko sowohl bei der Aufklärung des Falles als auch während der Verhandlung eingegangen.
***
Vor den nächsten beiden Verhandlungstagen hatte ich am meisten Angst. Es waren die Tagen, an denen Nicolai selbst aussagen sollte. An diesen Tagen gingen wir zu zweit in den Gerichtssaal, weil wir nicht wußten, was uns erwartete. Bis zu diesem Tag hatte Nicolai jeden Tag stumm und gleichgültig im Saal gesessen. Wurde er durch eine Nebentür hereingeführt, dann hatte er eine Jacke über seinen Kopf gezogen oder sein Gesicht mit einer Zeitung abgeschirmt. Nie sah er in unsere Richtung, und nie habe ich ihm nie in die Augen geschaut.
An diesem Tag sollten wir merken, daß Falko Nicolai zwei Gesichter hatte. Als der Richter ihn aufforderte, etwas über seine Herkunft, sein Leben und die Vorgeschichte des Verbrechens zu erzählen, wich die bisherige Langeweile von seinem Gesicht. Er stand auf und erzählte, zuerst zögernd und leise, nach und nach aber immer lauter, fester und flüssiger von seiner Kindheit, seiner Ausbildung und seinen Erfolgen im Leben, bis er sich in eine atemlose Tirade hineinsteigerte: eine ganz normale Kindheit hätte er gehabt, nach DDR-Maßstäben sogar privilegiert. Sein Vater war Chemieingenieur, promoviert, ein bekannter Naturwissenschaftler, bis zur Wiedervereinigung Leiter des Hydrierwerkes in Zeitz, Parteimitglied natürlich, Träger hoher Auszeichnungen, Reisekader mit der Erlaubnis zu Westreisen, von denen er Lederschuhe, Kaffee, Spielzeug, Radios und Fernsehgeräte mitbrachte. Mit diesem Mann, der in Wirklichkeit sein Stiefvater war, seiner Mutter und zwei jüngeren Halbschwestern wohnte Nicolai im eigenen Haus mit großem Garten, auch das für DDR-Verhältnisse etwas Außergewöhnliches. Es hätte ihm an nichts gefehlt, seine Kindheit, dies betonte er mehrere Male, sei glücklich und harmonisch verlaufen.
„Obwohl der Mann, von dem Sie uns hier erzählen, ihr Stiefvater ist?“ fragte der Vorsitzende.
Diese Bemerkung brachte Nicolai aus dem Konzept. Er
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