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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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hatte anscheinend nicht damit gerechnet, daß der Richter so etwas wußte. Einige Sekunden war er nicht in der Lage, weiterzusprechen. Er blickte mehrere Male hilfesuchend zu seiner Verteidigerin hin, strich sich mit der Hand über das Kinn und räusperte sich wiederholt, bis er allmählich den Faden wiederfand. Dieses winzige Drama sollte sich noch viele Male wiederholen. Es nahm immer denselben Verlauf: Nicolai warf sich gewaltig in Pose, erklärte laut und wortreich einen Sachverhalt und nahm dabei jedesmal aufs neue an, daß Gericht und Staatsanwaltschaft seiner Version der Ereignisse unbesehen glauben würden. Aber der geringste Einwand gegen seine Darstellung warf ihn aus der Bahn. Je länger der Tag sich hinzog, desto mehr ließ Nicolais Konzentration nach. Am Ende des zweiten Tages war er am Stammeln.
    Ich habe mich nie für Psychologie interessiert. Die beiden Pflichtsemester im Medizinstudium habe ich geschwänzt. Biologie, Chemie und Physik lagen mir mehr, weil ich ein nüchterner, sachlicher Charakter bin. Vielleicht hätte mich die Psychologie im Studium mehr interessiert, wenn ich früher einem Menschen wie Nicolai begegnet wäre, dessen Verhalten ganz offensichtlich rein rational nicht erklärt werden kann. Vieles von dem, was Nicolai im Gerichtssaal von sich gab, war entweder absurd, erlogen oder dumm erfunden. Die Geschichte von dem gütigen Stiefvater, der sich so rührend um ihn gesorgt hatte, war da noch das harmloseste Beispiel. Als der Richter ihn aufforderte, seinen Werdegang zu erzählen, wob Nicolai wortreich das Bild einer DDR-Familienidylle, wie sie sich schöner nicht denken läßt. Diese Schimäre fiel unter den Fragen von Richter und Staatsanwalt rasch in sich zusammen.
    Nicolai hatte, wie sich herausstellte, seine Kindheit hauptsächlich in Kinderkrippen, Horten und Heimen verbracht. Seine Mutter, die bei seiner Geburt siebzehn Jahre alt gewesen war, verbrachte ein Jahrzehnt in den Vorzimmern von Parteifunktionären und auf Partei- und Gewerkschaftskongressen, immer auf der Suche nach dem Mann, der ihr das DDR-Upper-Class-Leben bieten konnte, von dem sie träumte. War ihr Nicolai in seinen ersten zehn Jahren gleichgültig gewesen, so wurde er nun zum Problem in der Ehe mit einem ehrgeizigen Chemiefunktionär, der die real existierende sozialistische Musterfamilie präsentieren wollte.
    Stockend und sichtbar gequält gab Nicolai zu, daß sein Stiefvater ihm seine Halbschwestern immer vorgezogen hatte. Sein biologischer Vater, ein Journalist, der wegen Republikflucht in Bautzen gesessen hatte und später von der Bundesrepublik freigekauft wurde, durfte im Hause seines Stiefvaters niemals erwähnt werden. Nicolai erzählte im Gerichtssaal lang und schwärmerisch von diesem Mann, der Pfeife rauchte, Cord-Sakkos trug und den er mit fünf Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Als sich die Beziehung zwischen Stiefvater und Sohn immer mehr verschlechterte, stellte sich Nicolais Mutter nie schützend vor ihren Sohn, sondern ergriff grundsätzlich Partei für ihren zweiten Mann, der bald nur noch ein Ziel kannte: den ungeliebten Stiefsohn endlich loszuwerden. Nicolais Antwort war Verweigerung auf ganzer Linie, und damit begann er schon in der Schule. In der dritten Klasse blieb er zum ersten Mal sitzen, was sogar in der DDR möglich war. Von da an folgte ein Schulverweis dem anderen. Mit sechzehn wurde er endgültig von der Schule relegiert. Sein Stiefvater quittierte sein Schulversagen mit Schweigen und kaltem Haß.
    „Seit ich vierzehn war“, erzählte Nicolai dem Gericht, „hat mein Stiefvater kein Wort mehr mit mir geredet. Er hat so getan, als würde ich gar nicht existieren.“
    „Also war Ihr Familienleben doch nicht so harmonisch“, bemerkte der Richter.
    Nicolai hatte für derlei Inkonsequenzen keinen Sinn. Seine stereotype Antwort auf solche Fragen lautete: „Ich weiß es nicht.“
    Mit dem Rauswurf aus der Schule begannen Nicolais Probleme mit dem Gesetz. Er fing an zu klauen. Er stahl alles – von der Zahnbürste bis zum Motorrad. Er wurde zig Male erwischt, aber es passierte ihm kaum etwas. Polizei und Vertreter von Staat und Partei gaben sich bei den Nicolais die Klinke in die Hand und versuchten, schön sozialistisch zu vermitteln, um nicht strafen zu müssen. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag warf ihn sein Vater aus dem Haus. Als er zwei Wochen später bei seiner Mutter aufkreuzte, um sich Geld zu leihen, ließ ihn sein

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