Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Umschichtungsprozess, den Kultur und Sprache der Steppennomaden durchmachten, nachdem sie sich im Gebiet der Trypillya-Kultur niedergelassen hatten und im ständigen Sozialkontakt mit der dortigen einheimischen Bevölkerung standen.
3. Die Ursprache und ihre Verzweigung
Struktur und Typik des Proto-Indoeuropäischen
Soweit sich das Proto-Indoeuropäische mit den vergleichenden Methoden der Sprachwissenschaft rekonstruieren lässt, ist festzustellen, dass diese Sprachform des 7. und 6. Jahrtausends v. Chr. ein komplexes Lautsystem besaß (Beekes 1995: 54ff.). Unterschieden wurden zwar lediglich vier Vokale, allerdings war das Inventar der Konsonanten mit fast 30 Einheiten sehr differenziert. Kombinationsregeln machten die Häufung von bis zu drei Konsonanten in Clustern möglich. Eine Besonderheit des Proto-Indoeuropäischen ist das Phänomen des Ablauts, d.h. der systemhaften Veränderung der Lautung in den Silben von Wortstämmen. Ablaut (bzw. Umlaut) tritt in historischen und modernen indoeuropäischen Sprachen auf (z.B. dt.
Huhn: Hühner, finden: fand: gefunden;
kymr.
ffordd
(Sg.):
ffyrdd
(Pl.) ‹Straße›). Die Rekonstruktion des Lautstandes der Grundsprache aus den Lautzuständen einzelner Sprachzweige des Indoeuropäischen trifft auf besondere Schwierigkeiten, wenn man es mit sukzessiven regelhaften Veränderungen zu tun hat – wie im Fall der germanischen Konsonantenverschiebungen, v.a. bei den Explosivlauten
p, t, k, ph, th, kh
und ihren stimmhaften Entsprechungen –, die ursprüngliche oder zwischenzeitliche Sprachzustände verdecken (s. Abb. 8).
So entspricht zum Beispiel ie. ∗
dheubos
dem altnord.
djupr,
altengl.
deop,
dem got.
diups,
dem althochdt.
tiof
und nhd.
tief;
ie. ∗
tuh x
dem altnord. und altengl.
thu,
mengl.
thou,
got.
thu,
ahd.
t(h)u,
nhd.
du
;
ie
. ∗
ĝenu
dem altnord.
kinn
, altengl.
cinn
, got.
kinnus,
ahd.
chinne,
nhd.
Kinn
.
8 Entwicklung des Konsonantismus vom Indoeuropäischen zum Germanischen und weiter bis zum Neuhochdeutschen (nach Schmidt 1970)
Betrachtet man die Typologie von Sprachen, so deutet die Verwendung einer Vielzahl von grammatischen Formen, die an den Wortstamm geheftet werden (z.B. Kasusendungen), auf stark flektierende Sprachtechniken und ist Ausdruck des synthetischen Prinzips in der Architektur einer Sprache. In einer synthetischen Verbform wie latein.
cantabo
sind Informationen über die Grundbedeutung (
canta-
‹singen›) ebenso wie Hinweise auf die Zeitform (
-b-
als Marker des Futurs) und die handelnde Person (-o = 1. Pers. des Personalpronomens, ‹ich›) gespeichert. Dieser Form entspricht nach dem analytischen Prinzip eine aus getrennten Wörtern gebildete Form wie dt.
ich werde singen.
Hinsichtlich der Typik des Proto-Indoeuropäischen lässt sich – mit Mallory/Adams (1997: 464) – annehmen, das es «hochgradig flektierend», also stark synthetisch organisiert war, denn «je früher eine Sprachgruppe dokumentiert ist, desto komplexer ist das ‹Paket› der flektierenden Sprachtechniken», und außerdem zeigen viele indoeuropäische Sprachen «eine Reduktion des Bestands ihrer flexivischen Elemente im Lauf ihrer Geschichte». Von den indoeuropäischen Sprachen sind das Sanskrit und das Litauische (als Vertreter des Baltischen) besonders konservativ. Hier hat sich ein hoher Anteil des ursprünglichen proto-indoeuropäischen Formenreichtums erhalten (s. Abb. 9).
Das Altgriechische ist konservativ und hat den synthetischen Charakter des Proto-Indoeuropäischen – anders als die neugriechische Sprachform (s.u.) – noch gut erhalten. Zu den Techniken des altgriechischen Sprachbaus gehörten (1) Wortzusammensetzungen, (2) Ableitungen mit Hilfe von Formantien (Prä- und Suffixen), (3) Verwendung grammatischer Endungen. Alle drei Techniken können für die Bildung ein und desselben Wortes eingesetzt werden. Das wohl berühmteste Beispiel für die synthetische Kapazität des Altgriechischen ist das längste Wort der Literaturgeschichte, das von dem Komödiendichter Aristophanes (448 – ca. 380 v. Chr.) in seinem Werk «Ekklesiazusen»verwendet wird. Dieses Wort setzt sich aus Dutzenden von Morphemen zusammen und wird im Griechischen mit insgesamt 170 Buchstaben geschrieben:
9 Der Formenreichtum im grammatischen Bau indoeuropäischer Sprachen; dargestellt anhand der Nominalflexion, Beispielwort ‹Zahn› (nach Baldi
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