Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Fremdeinwirkung erklären. Das neolithische Gräberfeld von Varna an der Schwarzmeerküste bietet eine Neuerung, die für die früheren Bestattungssitten in Südosteuropa untypisch ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Europas lassen die Gräber klare materielle Unterschiede in der Ausstattung erkennen. Wenige Gräber mit reichen Beigaben illustrieren den Kontrast zu den einfachen Beigaben der großen Mehrheit der Bestattungen.Zu den wertvollen Grabbeigaben gehören auch die ältesten aus Gold gefertigten Objekte der Welt.
Solche Unterschiede in der Ausstattung mit Beigaben weisen auf eine hierarchische Sozialordnung und auf die Existenz einer Elite mit politischer Macht. Alles deutet darauf hin, dass die Angehörigen der Elite, die sich im Gebiet der Ackerbauern der Varna-Region etabliert hatten, aus der Steppe kamen (Mallory/Adams 1997: 338ff.). Anthropologische und ethnographische Studien haben ein differenziertes Bild von nomadischen Gesellschaften vermittelt. Ob historisch oder rezent, nomadische Gemeinwesen sind streng hierarchisch aufgebaut, mit klarer Arbeitsteilung und sozialen Rangabstufungen (Kristiansen 1998: 189ff.). Sehr verbreitet ist eine Gliederung nach lokalen Clans, wovon einer temporär oder für längere Zeit jeweils höchste Autorität genießt, sodass seine Mitglieder die Führungselite für die gesamte Gemeinschaft stellen. Die Frühphase der Indoeuropäisierung stellt sich in neuem Licht dar, und zwar als die politische Kontrolle von nomadischen Eliten über die sesshafte agrarische Bevölkerung.
Über die Motivation für die sesshaften Ackerbauern, die Sprache der Steppennomaden zu übernehmen, ist viel spekuliert und geschrieben worden. Es gibt inzwischen eine Grundlegung für den spezifischen Prozess, der für den anfänglichen Transfer indoeuropäischer Sprachen nach Westeuropa verantwortlich ist, nämlich Akkulturation und Assimilation ohne die Existenz staatlicher Organisation (Haarmann 2012).
Man könnte mit einiger Skepsis einwenden, dass langfristige Sprachwechselprozesse nicht vorstellbar seien, die allein durch das Prestige und die Machtposition von Eliten ausgelöst und aufrechterhalten werden können. In der Tat sind die aus der Kulturgeschichte bekannten Fälle von Sprachwechsel durch Eliteeinwirkung solche, wo nicht allein das Prestige einer Elite die Verbreitung von deren Sprache fördert, sondern wo dieser Prozess gleichzeitig eingebunden ist in das Bezugsnetz staatlicher Institutionen (etwa in Italien, wo sich zahlreiche lokale Sprachgemeinschaften unter dem Druck der römischen Staatsgewalt ans Lateinische assimilierten; s. Kap. 4, Italisch). Zu der Zeit, alssich die nomadischen Eliten bei den Ackerbauern etablierten, gab es aber noch keine staatliche Organisation. Die ältesten Staatswesen auf europäischem Boden waren die mykenischen Stadtstaaten, und die entstanden im 2. Jahrtausend v. Chr., also viel später als die Westbewegung der Indoeuropäer.
Dieser besondere Typ von eliteorientiertem Sprachwechsel in einem staatsfreien Kontaktmilieu wird in der neueren englischen Terminologie als «élite recruitment» beschrieben (Anthony 2007: 117f.), womit ganz wörtlich die Anwerbung zur Assimilation und Akkulturation an die Elite zu verstehen ist. Dass soziale Eliten ihre Sprache erfolgreich als Machtinstrument einsetzen können, steht außer Zweifel (vgl. Pierre Bourdieu (1991) «Language and symbolic power»), wie so etwas aber in der Vorgeschichte ohne die Rückendeckung staatlicher Institutionen möglich war, kann nur postuliert werden. Hier soll nun auf einen gut dokumentierten ethnographischen Vergleichsfall aus späterer Zeit zurückgegriffen werden, an dem mehr als eine halbe Million Sprecher beteiligt waren.
Exkurs nach Mauritius: Die Entstehung einer Fusionssprache. Die Entstehung des französisch-basierten Morisien auf Mauritius ist durchaus geeignet, die Konstellation einer indoeuropäischen Sprache mit elitärem Status und nicht-indoeuropäischen Sprachen, die mit ihr fusionieren, zu veranschaulichen (Haarmann 2009b: 48ff.). Die entscheidenden soziodemographischen Wandlungen auf Mauritius liefen im staatslosen Vakuum des 17. und 18. Jahrhunderts ab. Die ersten Zwangsarbeiter für die Zuckerrohrplantagen der holländischen Ost-Indien-Handelsgesellschaft kamen aus Madagaskar und Java. Die Holländer verließen Mauritius 1710, an ihre Stelle traten französische Siedler, die ab1715 die alte Sklavenordnung fortsetzten.
Die Sklaven lebten in kleinen
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