Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Kopf einer weiblichen Mumie, der «Schönen von Kroran (bzw. Loulan)», ruht auf ihrem kunstvoll geflochtenen, schulterlangen Haar, und auf ihrem Gesicht zeichnet sich noch im Tod ein Lächeln ab (Abb. 18).
Erst 2003 ist das bislang vollständigste Grab geöffnet worden, in dem man außer der Mumie reichhaltige Beigaben fand. Einige Forscher identifizieren den Leichnam als den einer Frau, vermutlich einer Schamanin. Die besondere Kleidung und die Utensilien, die auf Parallelen zu den schamanistischen Traditionen Eurasiens weisen, sprechen dafür. In der Mythologie einigerVölker Zentralasiens und Sibiriens ist davon die Rede, dass die ersten Schamanen Frauen waren, und Schamaninnen erfüllen bis in unsere Tage kommunale Aufgaben bei den Kleinvölkern in Sibirien (Haarmann/Marler 2008: 67f.).
Einige bronzene Artefakte im Grab der Schamanin sind von ganz besonderem Interesse, denn sie beweisen, dass die Bronzetechnik den Ürümchi-Leuten vertraut war. Bronzefunde im Tarim-Becken aus dem frühen 2. Jahrtausend v. Chr. sind auch deshalb wichtig, weil hier möglicherweise ein Verbindungsglied zur Verbreitung der Bronze-Technologie nach China zu suchen ist. Denn die Herstellung von Bronze aus Kupfer und Zinn ist in den Kulturzentren der Shang-Dynastie erst seit ca. 1200 v. Chr. bekannt, und Berichte über die Seidenstraße stammen erst aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. Es ist nun aber sehr wahrscheinlich, dass es Handelskontakte zwischen China und Zentralasien bereits lange vorher gegeben hat (Kuzmina 2008).
Da chinesische Populationen erst seit etwa 1000 v. Chr. in der Region bezeugt sind, ist anzunehmen, dass die Menschen, die ihre Toten mit aufwendigen Mumifizierungsritualen bestatteten, vor dieser Zeit in der Taklimakan-Wüste gelebt hatten. Die materielle Hinterlassenschaft weist auf Beziehungen zur Afanasevo-Kultur, deren Träger ihrerseits Nachkommen von Steppennomaden aus der südrussischen Steppe waren (s.o.).
Über mehrere Zwischenstationen lässt sich die Herkunft der Leute von Ürümchi aus dem Westen erklären. Wegen der speziellen Webtechnik und Musterung der Textilien nahmen einige Forscher an, dass wir es hier mit einer Außengruppe von Kelten zu tun haben. Eine recht abenteuerliche Vorstellung, denn der keltische Kulturkomplex bildete sich erst deutlich später aus. Zudem zeigt die Gesamtheit der Artefakte aus den Mumiengräbern von Ürümchi verschiedene Merkmale indoeuropäischer Kulturen, mit typologischen Anklängen an die sich damals ausbildende germanische Kultur wie auch an den älteren proto-arischen Komplex.
Die Vermutungen von der europäischen Herkunft der Ürümchi-Leute sind durch neueste DNA-Untersuchungen bestätigt worden. Danach weist das genomische Profil eindeutig auf dasöstliche Europa als Ursprungsland. Es lassen sich zusätzlich Nachwirkungen von Sozialkontakten identifizieren, wobei die Kontaktpersonen vermutlich aus Indien sowie aus dem chinesischen Kernland stammten, was auf Kontakte verschiedener Populationen hindeutet. Zeitliche und räumliche Variationen in der Kulturentwicklung lassen erkennen, dass es offensichtlich mehrere Migrationen aus dem Westen gegeben hat. Die Annahmen vom Tarim-Becken mit seinen alten Karawanenrouten als Wiege prähistorischer Ost-West-Kontakte im 2. Jahrtausend v. Chr. verdichten sich damit.
Die Sprache der Ürümchi-Leute ist natürlich nicht bekannt, da es keinerlei Schriftdokumente aus jener Zeit gibt. Was man aber über ihre materialle Kultur weiß, macht es möglich, sie mit den Tocharern zu assoziieren, die einige Jahrhunderte später im Tarim-Becken bezeugt sind. Deren Sprache kennt man aus Texten, und sie ist unzweifelhaft indoeuropäisch.
Die Tocharer im Tarim-Becken. Einige der indoeuropäischen Sprachen wurden erst spät entdeckt, und zwar aufgrund von Inschriftenfunden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dazu gehören das Hethitische und das Tocharische. 1908 konnte man anhand von Texten an Fundstätten in Nordwestchina (Dunhuang, Tarim-Becken) feststellen, dass das Tocharische zum Kreis der indoeuropäischen Sprachen gehört.
Seine Sprecher, die indoeuropäischen Tocharer, sind nicht identisch mit der gleichnamigen Ethnie, die von den Chinesen Yuezhi genannt wurde und ursprünglich in der chinesischen Provinz Gansu siedelte. Das kulturelle und sprachliche Profil der Tocharer bildete sich im ausgehenden 1. Jahrtausend v. Chr. aus, und zwar auf der Basis der Afanasevo-Kultur. In den Freskenmalereien der Höhlenklöster
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