Die Insel der Krieger
stellte sie sich dumm? Sie wusste besser, was auf Kijerta vor sich ging, als er ahnte. Hatte sie etwa Angst? »Kreise aus totem Gras«, erklärte er. »Tote Tiere, denen das Gesicht fehlt. In den wenigen Zeilen, die Marik über das Grauen schreibt, beschreibt er genau das. « Kaya nickte beklommen. »Genau das ist meine Verm u tung. Das Grauen ohne Gesicht ist zurück. « Nalig bemerkte, wie er ein wenig fröstelte. »Aber was will es hier? Und weshalb ist es nach 800 Jahren wieder hier? « »Ich denke, es hat etwas mit Arkas zu tun«, ve r mutete Kaya, machte jedoch nicht den Eindruck, als würde sie diese Vermutung weiter erläutern wollen. Gemeinsam gingen die Göttin und der Junge in die Bibliothek. Da Nalig einen Teil der Bücher selbst sortiert hatte, war Mariks Tagebuch schnell gefunden. »Habt Ihr das Tagebuch nicht schon viele Male gelesen? « , fragte Nalig, während er nach der richtigen Stelle suchte. »Nicht so oft, wie du vielleicht denkst«, entgegnete Kaya. »Hier ist es. « Nalig hielt beim Blättern inne. Die Göttin las über seine Schulter gebeugt mit. Es waren kaum zwei Seiten, die Marik dem Grauen gewidmet hatte. Viel war ihnen nicht zu entnehmen. Der Gott beschrieb, wie er im Wald auf geschwärzte Tierkadaver gestoßen war, denen allesamt Augen und Schnauzen feh l ten. Er berichtete von toten Pflanzen und erwähnte, dass alle vom Grauen ohne Gesicht gesprochen hatten. Der letzte Eintrag schloss damit, dass er darlegte, wie sehr die unbekannte Gefahr die Götter geängstigt hatte. Kein Wort fand sich darüber, was das Grauen getan hatte, um ganze Generationen uralter Götter in die Flucht zu schlagen und keine Silbe war darüber zu lesen, wie Marik es geschafft hatte, das Grauen zu töten. »Das ist nicht sehr aufschlussreich«, stellte Kaya fest und wandte sich ab. »Und es gibt wirklich nichts, was Ihr darüber hinaus von dem Grauen wisst? « Nalig konnte sich nicht erklären, wie jemand, der damals auf Kijerta gelebt hatte, so schrecklich ahnungslos sein konnte. Die Göttin schüttelte den Kopf. »Ich war durch Xatraks Tod so in mich gekehrt, dass ich nicht viel von dem mitbekommen habe, was auf der Insel geschah. Aber ich weiß, dass meine Mutter das Grauen gesehen hat. « Naligs Augen weiteten sich. »Was hat sie darüber erzählt? « Kaya hob ratlos die Hände. »Nichts. Sie hat gar nichts gesagt. Ich weiß nur, dass sie verschwand, kurz bevor die übrigen Götter die Insel verließen. Bei dieser Gelegenheit ist sie dem Grauen begegnet. Sie war danach nicht mehr dieselbe. Und sie hat nie etwas darüber gesagt, was in dieser Zeit geschehen ist. Auch nicht darüber, wie mein Vater den Tod gefunden hat. Sie hat bald danach selbst die Insel ve r lassen und ist nach Serefil gegangen. « »Noch hat das Grauen niema n dem etwas getan«, meinte Nalig hoffnungsvoll. »Womöglich stellt es gar keine Gefahr für uns dar. « Kaya bedachte ihn mit einem mitleid i gen Blick. »Etwas, das so böse ist, dass alles Leben vergeht, wo es die Erde berührt, ist nicht ohne Grund hier. Und mein Vater hätte sich nicht geopfert, um es zu vernichten, wenn er keinen sehr guten Grund gehabt hätte. Dass es noch niemandem etwas zu Leide getan hat, kann nur daran liegen, dass es auf den rechten Zeitpunkt wartet. « Nalig beschloss, dass es an der Zeit war, jemandem von seiner Begegnung mit Arkas nach dessen Tod zu berichten. Die Göttin hörte ihm au f merksam zu. »Ich bin beinahe sicher, dass es damals ähnliche Berichte gegeben hat«, meinte sie mit zusammengekniffenen Augen, nachdem er geendet hatte. »Das ist alles so entsetzlich lange her. « Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Was könnte das Grauen damit bezwecken? « Der Blick der Göttin wurde zu Stein. »Jedenfalls nichts Gutes. Die Form eines anderen anzunehmen, ist eine bemerkenswerte Fähigkeit. Und dass das Grauen schon so nah beim Tempel war, bedeutet, dass es stark sein muss. Ich finde, wir sollten vorerst für uns behalten, was sich hier auf der Insel herumtreibt. « Nalig blickte erstaunt auf. »Aber wir sind womöglich alle in Gefahr. Ich finde, die anderen sollten wi s sen, was uns droht. « Kaya schüttelte den Kopf. »Was genau uns droht, wissen wir doch noch gar nicht. Und die verbliebenen Krieger fühlen sich sicher auf Kijerta. Sie dieser Illusion zu berauben, könnte ihnen jeglichen Kampfgeist nehmen. « Nalig war nicht damit einverstanden, doch die Göttin verließ die Bibliothek, ehe er noch etwas sagen kon n te. Nach kurzem Zögern
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