Die Insel der Krieger
hatten ihn das Grauen, Kugara und das aufgebrachte Wildschwein abgelenkt. Zudem war Nalig nicht ganz klar, was er eigentlich wissen wollte. Weshalb Arkas hatte sterben müssen? Wozu er in einer Welt für das Wohl der Menschen kämpfen sollte, in der es keine Gerechtigkeit gab? Wo Stella steckte? Oder wie er Merlin dazu bringen sollte, sich zu verwandeln? »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Nalig mehr zu sich als zu der Frau mit den verschlossenen Lippen. Doch kaum hatte er dies ausgesprochen, verwandelte sich die Wasseroberfläche kni s ternd zu Eis und das Wasser darunter klärte sich. Schatten begannen darin umherzuwirbeln, bis klare Bilder zu erkennen waren. Nalig sah Bäume und andere Pflanzen – eindeutig ein Ort in den Wäldern Kijertas. Das Orakel zeigte ihm die Stelle, an der er Arkas’ toten Kö r per gefunden hatte. Er sah blutiges Laub und einen Schatten, der sich aus der Erde wand. Gierig sog er das Blut auf und wurde dabei zus e hends größer. Dann glitt er durch den Wald davon. Nalig sah sich selbst, wie er Greon überwältigte und ihm zornfunkelnd den Dolch an die Kehle drückte. Der Junge wich erschrocken einen halben Schritt zurück. Einen so mordlustigen Ausdruck in seinem eigenen Gesicht zu sehen, erschreckte ihn, auch wenn er sogleich nachempfinden konnte, wie er sich dabei gefühlt hatte. Er sah, wie er den Dolch sinken ließ und Merlin mit Greon in den Klauen davon flog. Das Orakel offe n barte ihm, wie das Grauen das verwaiste Ufer absuchte und unverric h teter Dinge in der Erde verschwand. In der Schale wurde es für einen Moment dunkel, ehe sich ein neues Bild formte. Das Orakel zeigte Nalig ein riesiges, detailreiches Gemälde. Der Junge sah einen Mann darin, umgeben von Wolken, eine Insel in einem nebelverhangenen See und eine Frau, die ihn vage an Kaya erinnerte. Es dauerte einen Augenblick, bis Nalig das Wandgemälde aus den Hallen des Schicksals erkannte. Wieder wechselte das Bild. Er sah einen Mann und eine Frau mit einem Kind auf einer Lichtung. Die Frau und das Kind – ein Mä d chen von kaum fünf Jahren – hatten weißes, lockiges Haar. Der Mann hielt einen hölzernen Stab, in dessen Ende ein Rubin eingelassen war. Es war ein sonniger Tag und die kleine Familie schien glücklich. Die folgende Szenerie hätte keinen größeren Gegensatz bilden können. Die Lichtung wich einem düsteren Wald, durch den der Mann mit dem Stab einem Schatten nachjagte, der ständig seine Form veränderte und die Gestalten gesichtsloser Körper annahm. Dann sah Nalig den Mann an einem Schreibtisch sitzen, wo er etwas auf ein Blatt Perg a ment schrieb. Naligs Blickwinkel erlaubte es ihm nicht, zu lesen, was dort stand. Der Mann rollte das Schriftstück zusammen und verbarg es in einem Fach hinter einem goldgerahmten Spiegel, verziert mit roten und blauen Steinen, ehe er mit entschlossener Miene das Zimmer verließ. Das Bild verschwamm, als habe jemand einen Stein ins Wasser geworfen. Die Farben fanden sich neu zusammen und zeigten Nalig einen Raum, der ihm vertraut war. Er blickte von oben in das Zimmer, in dem ein anderer Mann stand, so jung und gutaussehend, dass Nalig seinen Vater beinahe nicht erkannt hätte. Sorgenvoll stand er vor e i nem Bett, in dem eine junge Frau lag. Sie hielt einen Säugling in den bebenden Armen und ihre fiebergetrübten Augen blickten durch die Wasseroberfläche direkt in die Naligs. »Marik«, murmelte die Frau kaum hörbar und schloss dann für immer die Augen. Im selben M o ment, in dem sie ihre Lider niederschlug, zerfloss das Eis in der Schale. Das Wasser trübte sich wieder und die Feuer in den Wandnischen erloschen, sodass Nalig in völliger Dunkelheit zurückblieb. Nachdem er eine Weile reglos in der Finsternis gestanden hatte, zog der Junge den Lichtstein aus der Tasche und betrachtete die Statue. Sie stand verschwiegen und blind wie zuvor und plötzlich hatte Nalig das G e fühl, den Anblick nicht länger zu ertragen. Er ging in den vorderen Teil der Höhle, wo er sie nicht sehen musste und setzte sich. Merlin kam von draußen herein geflogen und ließ sich auf Naligs angewinke l tem Knie nieder. Der Junge kraulte gedankenverloren das Gefieder des Falken und dachte über die Antwort des Orakels nach. Sie erschien ihm sehr wirr und bruchstückhaft und er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Das Orakel hatte ihm Marik und auch das Grauen gezeigt sowie seine Eltern und das Gemälde in den Hallen des Schic k sals. Wie mochte all das zusammenhängen?
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