Die Insel der Krieger
von unbestimmter Beschaffenheit. Dies musste der Ort sein, an dem das Grauen all die Jahre gesteckt hatte, ehe es ihm gelungen war, wieder den Fuß auf Kijerta zu setzen. Nalig blieb stehen. Er konnte nichts mehr sehen, war jedoch unsicher, ob das einfach daran lag, dass es nichts gab, was man hätte sehen können. Merlins Ruf erklang direkt vor ihm und plötzlich flatterte der Falke aus dem Dunkel auf Naligs Schulter. »Da bist du ja! « Erleichtert schmiegte der Junge die Wange an das weiche Gefieder seines Begleiters. Merlin übermittelte ihm ein Bild Stellas und bedeutete ihm weiterzugehen. Nalig folgte der Aufford e rung und nur wenige Schritte später sah er eine verkrümmte Gestalt vor sich liegen. »Stella«, hauchte Nalig und kniete neben ihr nieder. Die junge Frau lag mit dem Gesicht nach unten und rührte sich nicht. Der Junge fasste sie bei den Schultern und drehte sie um. Obgleich Stellas Wangen eingefallen und ihre Augen dunkel umschattet waren, sah er ihr Gesicht mit Erleichterung. »Stella, wach auf«, forderte Nalig mit bebender Stimme. Ihre Mundwinkel zuckten. »Verschwinde! Lass mich endlich in Ruhe«, keuchte sie tonlos. »Nein Stella, ich bin es wirklich«, erklärte Nalig. »Mach die Augen auf und sieh mich an«, verlangte er und schüttelte das Mädchen. Der Junge erschrak, als sie die Lider hob. Das Weiße ihrer Augen war vollständig blutunterlaufen und ihre Pupillen wirkten matt und grau. »Warum bist du gekommen? Du hast gesagt, ich bedeute dir nichts, dass ich nur ein Zeitvertreib war, bis Ilia nach Kijerta kam. Weshalb bist du jetzt hier? « , wollte sie wissen. Ihre Stimme klang fremd, gar nicht so, wie er sie kannte. »Ich habe nie etwas Derartiges gesagt. Ich bin hier, um dich endlich zurück nach Kijerta zu bringen. « »Nein, Kaya hat Recht. Es ist besser, wenn ich hierbleibe. « »Kaya? « , fragte Nalig verwirrt. »Ja, sie war bei mir. Sie sagt, es sei alles meine Schuld. Dass Juray tot ist und all die anderen. Sie hat Recht. All das wäre nicht geschehen, wenn ich nicht gewesen wäre. Frauen sollten keine Krieger sein. Und Zalari hat auch Recht. Ich lenke euch anderen nur ab. Er hätte sehr viel stärker werden kö n nen, wenn er damals nicht so viel Zeit mit mir verbracht hätte. Dann wären die Ferlah längst tot und niemand müsste meinetwegen leiden. « »Zalari und Kaya sind nie hier gewesen«, meinte Nalig eindringlich. »Das Grauen flößt dir dieses Denken ein. Es kennt deine Ängste und deinen Schmerz und versucht, dich damit zu zerstören. Niemand denkt so über dich, außer du selbst. « »Ich habe genug Schaden ang e richtet«, sprach Stella weiter, als habe sie Nalig gar nicht gehört. »Ste l la«, rief er lauter und festigte seinen Griff um ihre Schultern. »Ihr seid alle sehr viel besser dran ohne mich. Also geh. « Der Hall wurde vie l fach von den unsichtbaren Wänden zurückgeworfen, als Nalig Stella die Ohrfeige zurückgab, die er vor langer Zeit von ihr bekommen hatte. Ihr Kopf kippte zur Seite und das Haar fiel ihr ins Gesicht. Doch ihr Blick klärte sich und sie blinzelte, als sehe sie zum ersten Mal seit Langem klar. Sie griff sich an die gerötete Wange und murmelte: »Danke. « »Gerne«, erwiderte Nalig und wollte ihr helfen, sich aufz u richten. Doch Stella war zu schwach, um sich auch nur hinzusetzen. »Wie bist du hierher gekommen? « , fragte sie und ihre Stimme klang wieder ein wenig nach ihr selbst. »Das spielt jetzt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass wir hier wieder rauskommen. « Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich versucht. Es ist aussichtslos«, erwiderte Stella resigniert. Sie hatte offenbar völlig aufgegeben. Das war auch kein Wunder, wenn man bedachte, wie lange das Grauen sie schon hier gefangen hielt. »Ich dachte, du wärst es, als es in mein Zimmer kam«, erklärte sie. »Ich weiß. Ich habe es nicht mehr geschafft, dich zu warnen. « »Es weiß Dinge über mich, die ich nie jemandem erzählt habe, Dinge, die ni e mand wissen kann. Es zeigt mir schreckliche Bilder. Immer und immer wieder. « »Du darfst dich nicht davon beeindrucken lassen. Es versucht nur, dich zu quälen, weil ihm das Stärke verleiht. Du hast vielen Me n schen das Leben gerettet, seit du auf Kijerta bist. Daran solltest du denken«, schärfte Nalig ihr ein. Doch Stella wollte nichts davon hören. Sie schüttelte abermals den Kopf und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Es hat Aila getötet«, presste sie hervor und nickte hinüber ins Dunkel. »Was? «
Weitere Kostenlose Bücher