Die Insel der Krieger
er stellte fest, dass sein Tod ein geringer Preis war, den es zu zahlen galt. Einen Moment lang verstörte ihn diese Erkenntnis. Dann gab sie ihm neuen Mut. Als er damals seine Reise über den See angetreten hatte, war er bereit gewesen, sich zu opfern, um sein Dorf zu retten. Nun würde dasselbe Opfer sehr viel mehr bewirken und so fiel es dem Jungen nicht weiter schwer, eine Entscheidung zu treffen. Er teilte seine Erkenntnis mit Merlin und er brauchte seinen Begleiter nicht erst zu fragen, ob er einverstanden war. Der Vogel hatte selbst genug Kämpfe bestritten, um zu begreifen, wie viel von ihnen abhing. In der Hoffnung, dass er sich nicht irrte, ließ Nalig den nächsten Angriff des Grauens kommen, ohne sich dagegen zu wehren. Es streckte sich nach ihm aus und umwand seinen Arm. Als es bemerkte, dass der Junge sich nicht wehrte, zögerte es sichtlich, doch zu spät. Unerwartet begann der Smaragd an der Spitze des Gol d zedernstabs zu leuchten, den Nalig in der Hand hielt, die das Grauen umschlang. Der schwarze Nebel begann im Kreis zu wirbeln, als wäre er in einen Sturmwind geraten. Das Grauen schien nicht selbst dafür verantwortlich. Es versuchte, wieder eine feste Form zu erlangen. Immer wieder tauchten einzelne Gliedmaßen aus dem schwarzen Dunst auf, doch das Grauen schaffte es nicht, sie zusammenzufügen. Naligs Hand erkaltete abermals. Die Spitze des schwarzen Wirbels, in den sich das Grauen verwandelt hatte, bog sich nach oben und wurde in den Smaragd in Naligs Stab gesogen. Der Junge keuchte überrascht auf und festigte seinen Griff um die Waffe. Er durfte sie nicht losla s sen. Das war ihm aus irgendeinem unerfindlichen Grund klar. Schwi e rig wurde das Unterfangen dadurch, dass die Hand des Jungen sich rasch schwarz verfärbte und jedes Gefühl aus ihr wich. Erbittert legte er auch die zweite Hand um das Holz. Immer mehr Substanz des Grauens verschwand in dem grünen Stein und Nalig spürte, wie die Kälte seine Arme empor kroch. Obgleich er nichts weiter tat, als den Goldzedernstab zu umklammern, zehrte etwas tief an seinen Kräften. Er bemerkte, wie Merlin neben ihm landete und sich zurückverwande l te. Der Falke flatterte auf Naligs Schulter und es schien ihn alle A n strengung zu kosten, die er noch aufbringen konnte. Die Hälfte des schwarzen Nebels war bereits verschwunden. Naligs Blick trübte sich. Die Kälte war bis zu seinen Schultern hinaufgekrochen und breitete sich nun in seinem Brustkorb aus. Sein Herz pochte so laut, dass es in seinen Ohren hämmerte. Dann plötzlich setzte es einen Schlag aus, kurz darauf ein weiteres Mal. Es kostete den Jungen ungehörige A n strengung, weiterzuatmen, während sich die Kälte durch sein Inneres fraß. Sein Herzschlag wurde unregelmäßiger. Immer wieder fehlten einzelne Schläge, dann zwei, dann so viele, dass Nalig nicht recht sagen konnte, wie viele nötig gewesen wären, um die Lücke zu füllen. B e nommen sah er, dass der größte Teil des Grauens bereits in den Sm a ragd gesogen worden war. Merlin schmiegte sich an seine Wange und kniff ihm ins Ohr, wie er es schon so oft getan hatte. Doch die Geste war viel zaghafter, als der Junge es gewohnt war. »Gleich haben wir es geschafft«, murmelte Nalig und sah zu, wie der letzte Zipfel des Gra u ens beständig schrumpfte. Dann plötzlich knickten seine Knie ein und die Welt um ihn wurde noch finsterer, als sie ohnehin schon war.
Der Neubeginn
K aya ging durch den Tempel. Es war spät am Abend, doch sie fand keine Ruhe. Fünf Tage war es her, dass Nalig aufgebrochen war, um sich seinem letzten Kampf zu stellen. Kijerta hatte sich verändert seither. Die Kälte, die sich auf der Insel ausgebreitet hatte, war gew i chen und es war bei Tag wieder sonnig und warm. In der Dämmerung sang eine Vielzahl von Vögeln und erst jetzt, da sie dies wieder taten, fiel wirklich auf, dass ihr Gesang in der vergangenen Zeit verstummt war. Von den Ferlah hatten sie nichts mehr gehört und sowohl Thorix als auch Aro hatten sich beinahe vollständig von ihrem letzten Angriff erholt. Es schien sich also alles zum Guten gewendet zu haben. Doch was der Göttin ernsthafte Sorgen bereitete, war der Gemütszustand Ilias. Das Mädchen hatte mit niemandem gesprochen, seit Nalig g e gangen war und es aß nur mäßig, wenn überhaupt. Kaya fand Ilia in der Küche, auf den Stufen zur Hintertür sitzend, wo sie gedankenve r loren den vor ihr ausgestreckten Wolf streichelte. Nur noch selten verließ sie das Bett. Nach einigem
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