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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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es losgelassen hatte.
Jetzt glitt das andere Ende am Rücken des Eunuchen hoch, und ein Zipfel des
grau-weißen, moderigen, seufzenden Leichentuchs wickelte sich um seinen
Oberkörper, so daß er die Arme nicht mehr bewegen konnte. Der Eunuch stieß
unaufhörlich gellende Schreie aus, und seine Augen traten vor Entsetzen aus den
Höhlen. Die anderen Enden des Tuchs rankten jetzt schneller empor, kletterten
über seine Knie, seine Hüften bis zu Brust und Schultern und wanden sich dann
um den Hals und um das Kinn von Li der Katze. Das Kristallfläschchen, in dem er
seine kostbaren Teile aufbewahrte, wurde vor sein Gesicht geschoben, und das
Tuch wickelte sich immer fester um ihn, bis seine Schreie verstummt und seine
entsetzten Augen verschwunden waren. Nur seine von Zeremonienseife glänzende
Stirn und seine Schädeldecke waren noch zu sehen, und dann verschwanden auch
sie unter dem Leichentuch. Ein grau-weißer Kokon kippte um und lag zuckend auf
der Empore, doch seine Bewegungen wurden immer langsamer. Und das war das
Letzte, was ich je von Li der Katze gesehen habe.
    Ich riß die letzte der
kleinen Gabeln aus dem Käfig. Meister Li rannte auf mich zu und landete mit
einem Satz auf meinem Rücken, dann schrie er mir ins Ohr: »Zum Brunnen!
Schnell, zum Brunnen !« Ich sprang in den Hof hinunter,
setzte über zuckende Leiber hinweg und nahm die Stufen zu dem Podest um den
Brunnen wie im Flug. Meister Li rutschte von meinem Rücken hinunter. Säure und
giftiger Sumpfhauch waren noch immer auf der Suche nach Opfern, und das
Geschrei war so laut, daß sich der Weise dicht zu mir beugen und aus vollem
Halse brüllen mußte.
    »Ochse, schau in den
Brunnen hinunter und sag mir, was du siehst !«
    Ich legte mich auf den
Bauch und beugte mich so weit über den Rand, wie es ging. Meine Augen wurden
noch größer, als sie ohnehin schon waren. Dann sprang ich auf und rief: »Die
Frösche! Rund um die Innenwand befindet sich ein Froschmuster, genau wie in meinem
Traum !«
    »Wir müssen hinunter!
Schnell !« schrie er.
    Es gab, anders als in
meinem Traum, weder eine Winde noch einen Eimer. Als ich suchend um mich
blickte, sah ich, daß die Wachen das Weite gesucht hatten, doch die Kette, die
die Gefangenen miteinander verband, war um einen Pfosten geschlungen, damit sie
nicht fliehen konnten. Der Schlüsselring lag auf dem Marmorpflaster. Ich schloß
die Kette auf und ließ die Gefangenen um ihr Leben laufen, dann schleppte ich
das schwere Eisen zum Brunnen und befestigte das eine Ende an einem
Metallpfosten, an dem sich vielleicht früher einmal eine Winde befunden haben
mochte. Das Folgende gestaltete sich wesentlich schwieriger, als im Traum einen
Eimer in die Tiefe zu lassen, aber andererseits fehlte der entsetzliche Gestank
nach verwesendem Fleisch - obwohl er sich bald einstellen würde, wenn die
Menschenopfer zu riechen anfingen -, und ich hörte kein beängstigendes Knurren
von unten. »Da!«
    Das Licht, das durch die
Brunnenöffnung zu uns herunterdrang, reichte aus, um den kreisrunden Fleck an
der Wand auszumachen. Ich versetzte die Kette in immer weitere Schwingungen,
bis ich mich von der hinteren Wand abstoßen konnte, und schließlich fanden
meine Zehen Halt in dem Loch. Ich schwang mich über den Rand in einen engen,
niedrigen Tunnel. Nachdem ich das Kettenende für den Fall, daß wir zurückkommen
mußten, um einen Felsblock geschlungen hatte, machten wir uns auf den Weg durch
den schmalen Gang, der von einem grünlich phosphoreszierenden Schein schwach
erleuchtet war.
    Ein Beben bewirkte, daß
sich kleine Steinchen aus der Felsendecke lösten. Das Beben wurde stärker und
stärker, und dann strömte uns Luft entgegen und traf uns wie ein Faustschlag.
Ein gewaltiger Ton schwoll an, der mir die Knie weich werden ließ, und gipfelte
in einer Lautstärke, die mich buchstäblich gegen die Wand schleuderte. Noch
während mich der Ton durchrüttelte, erkannte ich ihn. Es war der geheimnisvolle
Klang, der die Sonnenwende stets ankündigte, seit Acht Gelehrte Herren ein
gewaltiges Instrument gebaut hatten, und ich hatte, ehrlich gesagt, vollkommen
vergessen, daß es der Tag der Sonnenwende war. Voller Entsetzen wurde mir
bewußt, daß wir uns tatsächlich im Innern des Yu befinden mußten. Der
Tunnel, durch den wir uns bewegten, war eine der Pfeifen. Der Ton, den wir
gehört hatten, war nur ein Vorspiel, ein Räuspern gewesen, und ich mochte nicht
daran denken, was passieren würde, wenn uns der volle Klang erreichte,

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