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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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und rannte zur Mauer. Einem aufgeweckten Mann unter den
Soldaten gelang es, einen Speer zu schleudern, der aber fünf Fuß hinter dem
Affenmenschen, der sich jetzt anschickte, die Mauer hinaufzuklettern, zu Boden
fiel. Ich konnte kaum so schnell laufen, wie Neid eine Mauer erklomm, und nach
wenigen Sekunden war er mitsamt dem Käfig verschwunden.
    Wir dagegen waren unseligerweise
noch da. Die Mandarine zeigten kreischend auf uns, Soldatentrupps stürzten in
unsere Richtung, und lediglich die Tatsache, daß sie auch Mandarine und
Eunuchen getroffen hätten, bewahrte uns davor, von einem Pfeilhagel in
Nadelkissen verwandelt zu werden. Aber es war nur ein kurzer Aufschub. Li die
Katze lechzte nach Blut, die Schwarze Wache rückte näher, und in diesem
Augenblick geschah etwas, das alle Köpfe herumfliegen ließ. Ich hatte geglaubt,
die entsetzlichsten Schreie zu hören, die ein Mensch nur von sich geben kann,
als Wirt Tu seine Kunst unten im Kerker zum besten gegeben hatte, doch weit gefehlt. Die Schreie, die ich jetzt hörte, waren noch
viel furchtbarer, und sie drangen von der Basilika der Schwarzen Wache herüber.
Mir sprangen die Augen aus dem Kopf, genau wie allen anderen. Unmittelbar über
dem Rand der Mauer verlief in einem der oberen Stockwerke vor einer
Zimmerflucht ein langgestreckter Balkon, auf dem Hyäne und Schakal
entlangtaumelten. Sie waren splitternackt und schrien in unvorstellbarem
Schmerz, während sie sich die Haare rauften und die Haut mit den Nägeln
aufrissen. Als dritter folgte Wildschwein, ebenfalls nackt, und auf seinem
Rücken hockte ein nacktes Mädchen. Es war Yu Lan. Wildschwein brüllte ebenso
grauenerregend wie die anderen und versuchte dabei, sich die Augen
auszukratzen. Mir wurde schlagartig bewußt, daß die drei Männer verrückt waren.
Hoffnungslos, grauenhaft wahnsinnig. Die Hitze, die flimmernd um sie aufstieg,
erzeugte Trugbilder wie in einem Traum, und wie im Traum sah ich blitzende
Reißzähne in dem verschwommenen Nebel, der Yu Lans liebliches Gesicht umwogte,
ich sah furchtbare Krallen an ihrer Taille und etwas Schuppiges, Geringeltes
dicht bei ihren Beinen. Die Luftspiegelung gaukelte vor, daß die schöne Schamanin
vor Vergnügen jauchzte, während sie auf dem Rücken eines Wahnsinnigen ritt. In
diesem Augenblick hämmerte Meister Li auf meine Schulter, riß mich am Arm und
sprang von meinem Rücken herunter. Er stürzte sich auf die Käfige. Während Li
die Katze und die Soldaten wie angewurzelt dastanden und zu dem Balkon
hinaufstarrten, zog Meister Li einen Käfig unter einem der Thronsitze hervor
und riß den Pinsel heraus. Blinzelnd betrachtete er die Symbole, die in die
Gitterstäbe eingeritzt waren, dann tippte er das Bild eines rudernden Mannes
zweimal mit der Spitze des Pinsels an. »Ziege, Ziege, spring über den Wall«,
intonierte er und berührte dabei mit dem Pinsel das Bild einer Trommel, »Rupf
Gras und füttere deine Mutter .« Der Pinsel strich über
ein Tuch und einen Kopf. »Ist sie nicht auf dem Feld und im Stall«, der Pinsel
bewegte sich zum blauen Drachen des Ostens und zum weißen Tiger des Westens,
»dann gib es deinen hungrigen Brüdern .« Der Pinsel
fuhr eilig über eine Reihe von Ruderern. »Eins... Zwei... Drei... Vier...
Fünf... Sechs... Sieben... Acht!«
    Ein greller Blitz blendete
mich, und als ich wieder klar sehen konnte, starrte ich Tuan hu, ein
großes krötenartiges Geschöpf an, das in der Mitte der Tribüne hockte.
Furchterregende Augen glotzten mich an, ein riesiges Maul klappte auf. »Ochse !«
    Meister Li berührte mit der
Spitze seines rechten Zeigefingers die linke Augenbraue, die rechte Augenbraue
und dann die Nasenspitze, und ich beeilte mich, die rituelle Geste, die ich im
Traum gesehen hatte, nachzuahmen. Die gräßlichen Augen bewegten sich von uns
fort. Das Maul öffnete sich, eine riesige Zunge schoß hervor, und Ströme
ätzender Säure ergossen sich über Mandarine und Soldaten und fraßen sich ohne
Unterschied durch Stoff und Haut.
    »Ochse, das ist es, was die
Käfige enthalten! Und genau das brauchen wir !« schrie
Meister Li.
    Im Boden des Käfigs hatte
sich ein kleines Fach geöffnet, und Meister Li schob seine Finger zwischen die
Gitterstäbe durch, um etwas herauszuziehen, das ich ebenfalls aus meinen
Träumen kannte: ein winziges Ding, das die Form einer Heugabel mit nur zwei
Zinken hatte. Rasch steckte er es in seinen Geldgürtel und griff nach dem
nächsten Käfig, doch an dieser Stelle schlug eine Reihe

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