Die Insel der Orchideen
verneinte.
»Dann erholen Sie sich von Ihrem Schreck. Viel Glück!« Mit diesen Worten trat die Frau zurück und gab dem Kutscher das Zeichen zur Abfahrt. Johanna beugte sich aus dem Fenster, um noch einen letzten Blick auf die Frau zu werfen. Sie erinnerte sich einer lange vergessenen Begebenheit. Es war ein regnerischer und windiger Hamburger Herbsttag; sie mochte etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein und hatte gemeinsam mit dem Vater eine Erledigung gemacht. Die Köpfe tief in Kragen und Schals vergraben, waren der Vater und sie über den Gänsemarkt geeilt, als ein Warnschrei erklang. Hufgetrappel und panisches Wiehern erklangen. Johanna spürte einen festen Griff um ihren Arm, einen Ruck, und sie lag am Boden. In diesem Moment stürmten die durchgegangenen Pferde eines schweren Fuhrwerks an ihr vorbei, kaum eine halbe Mannslänge entfernt.
Erst als das Fuhrwerk weiter vorn in der Straße umkippte, registrierte Johanna den sauren und alkoholschwangeren Gestank der Armut, der sie wie eine erstickende Decke umhüllte. Sie blickte zur Seite, direkt in das von Entsetzen verzerrte Gesicht eines verwahrlosten Mannes mittleren Alters, der neben ihr im Schmutz kauerte und mechanisch über ihren Arm strich.
»Sind Sie verletzt?«, fragte er.
Johanna schüttelte den Kopf. Dann stand der Vater vor ihr, stellte dieselbe Frage. Als sie wiederum den Kopf schüttelte, kümmerte er sich um den Bettler, der ebenfalls unversehrt geblieben war. Hermann-Otto Uhldorff half erst dem Mann hoch, dann Johanna. Sie sah, wie der Vater ihrem Retter eine große Hand voll Münzen in die Tasche stopfte. Immer und immer wieder bedankte er sich, mit Tränen der Erleichterung in den Augen.
Später, als sie nach Hause gingen, hatte der Vater sie fest an sich gezogen. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, hatte er gesagt, seien meist dort zu finden, wo man als Letztes danach suchte.
* * *
Leah fror und schwitzte gleichzeitig, das Laken sandte bei jeder Berührung ihrer fieberwunden Haut neue Schauer durch ihre Glieder. Wo war sie? Ein dämmriger Raum, die Stimmen vieler Menschen. Jemand sprach beruhigend auf sie ein, legte einen kühlen Lappen auf ihre Stirn. Sie wollte sich aufsetzen und versank stattdessen in tiefe Dunkelheit.
Die Schwärze war voller Bewegung. Stimmen raunten in ihren Ohren, hallten hohl in ihrem schmerzenden Schädel wider. Eine Gestalt torkelte auf sie zu, sie wollte zurückweichen, doch schon schob sich die Fratze des Piraten mit der blutigen Augenhöhle dicht vor ihr Gesicht. Dann kamen auch die anderen Männer hervorgekrochen, die sie getötet hatte, und griffen mit langen Dämonenfingern nach ihr.
Weitere Wesen schälten sich aus den grauen Schlieren. Teng Ah Tee, ihr Lebensretter. Und da, der Vater! Leah wollte auf ihn zurennen, doch ihre Beine waren in einem Sumpf gefangen, kaum konnte sie einen Fuß vor den anderen setzen. Sie kämpfte, um dem klebrigen Untergrund zu entfliehen, während sich der Vater wieder von ihr fortbewegte. Erst jetzt sah sie das Kind an seiner Seite. »Bleibt! Wartet auf mich!« Leah zog und zerrte, doch das Mädchen, ihre tote Tochter, verschwand mit allen anderen im diffusen Nebel.
Licht. Stimmen. Leah schlug die Augen auf. Mühsam drehte sie den Kopf und studierte ihre Umgebung. Ein schmuckloses Zimmer: schiefe Wände aus jungem Bambus, darüber ein Dach aus kunstvoll verwebten Wedeln der Kokospalme. Ihrem Lager gegenüber prangte der Altar einer grob geschnitzten Naturgottheit, deren Antlitz Leah an die Dämonen ihres Fiebertraums erinnerte. Erschöpft strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. So greifbar wie im letzten Traum war die Prozession ihrer Toten bisher nie gewesen. Niemals würden die getöteten Piraten von ihr ablassen. Sie musste mit ihrer Schuld leben.
Die Hütte schwankte, und im nächsten Moment drängte Burdetts schlaksige Gestalt durch die Türöffnung herein. Er musste sich regelrecht zusammenfalten, so niedrig war die Decke. Sofort ließ er sich neben ihrem Lager nieder. »Ich habe Ihren Schrei gehört.« Besorgt musterte er sie, während seine Hände fahrig durch die Luft schnitten, so als wüsste er nicht, wohin damit. Endlich fasste er sich ein Herz und strich ihr über die Wange. Es war das erste Mal, dass er sich eine derartige Vertraulichkeit erlaubte. Leah ließ es wider besseres Wissen geschehen. Sie hatte den Trost bitter nötig.
»Was ist mit mir?«, fragte sie. Ihr Mund war ausgedörrt. Burdett musste damit gerechnet haben, denn
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