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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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gut.«
    Nachdem Amelia gegangen war, saß Johanna wie betäubt auf der Veranda. Ihre Gedanken überschlugen sich. Friedrich, ein Mörder? Es war schwer zu glauben, doch kannte sie ihren Mann noch? Sollte sie Angst vor ihm haben? Sie musste herausfinden, was tatsächlich vorgefallen war.
    Dann war da noch die Sache um die Besitzverhältnisse von
Von Trebow Trading.
Es machte sie zornig, dass Henry sie im Dunkeln gelassen hatte. Die Vorstellung, jahrelang von seinem Geld gelebt zu haben, verletzte ihren Stolz. Sie machte sich keine Illusionen: Friedrichs zwanzig Prozent hätten niemals für den Unterhalt der Familie ausgereicht, auch wenn sie relativ bescheiden lebten. Nur allmählich verrauchte der Zorn und ließ freundlichere Gedanken zu. Henry hielt seine schützende Hand über sie, und dafür musste sie ihm dankbar sein.
    Sollte Amelia allerdings ihre Drohung wahrmachen, konnte auch er nicht mehr helfen. Johanna krümmte sich zusammen, als sie das Ausmaß der Bedrohung erfasste. Hier ging es um das Wohlergehen ihrer Kinder. Wenn sie, um Hermann und Dinah zu schützen, Henry niemals wiedersehen durfte, ließ es sich nicht ändern. Dass er deshalb ins ungeliebte England zurückreisen musste, würde sie allerdings nicht akzeptieren.
    Es gab eine Möglichkeit, die Amelia nicht in Betracht gezogen hatte.
    * * *
    Leah nahm den kleinen Thomas fest bei der Hand und verließ das Büro der
Ocean Steamship Company Ltd.
Sie hatte gehofft, in den nächsten Tagen eine Passage in den Osten zu bekommen, aber das erwies sich als schwierig. Liverpool, das vor lauter Auswanderern, die in die Neue Welt drängten, schier aus den Nähten platzte, verfügte zwar über Dutzende Reedereien, doch so wie Southampton und London traditionell Häfen für Reisen nach Indien, Malaya und China waren, hatten sich die Schiffseigner in Liverpool auf den Amerika-Handel spezialisiert. In den nächsten Wochen gab es einfach kein Schiff, das sie und Thomas zum Ziel ihrer Sehnsucht bringen konnte. In Liverpool auszuharren kam nicht in Frage. Um Geld zu sparen, hatte sie sich gestern nach der Ankunft in einer der unzähligen Auswanderer-Herbergen in der Nähe der Docks einquartiert, die mühelos mit den übelsten Absteigen Asiens konkurrieren konnte. Sie selbst vermochte sich mit den Umständen zu arrangieren, doch sie wollte Thomas der Enge, dem Schmutz und dem rachitischen Husten der Gäste nicht länger als nötig aussetzen.
    Als sie vor die Tür traten, schlug ihnen eiskalter Regen ins Gesicht, eine Böe drohte Thomas umzuwerfen. Leah kniete sich neben den Kleinen und zog seinen Schal dichter um den Hals. In seinen Augen standen Verwirrung und Angst. Zum ersten Mal seit ihrer hastigen Flucht aus Arliss Hall beschlichen Leah Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns. Durfte sie sich mit einem Jungen, dessen vierter Geburtstag noch bevorstand, in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang stürzen? Durfte sie ihn dem geliebten Vater entreißen? Sie spürte einen Stich. Bertrand hatte ihr Freiheiten zugestanden, wie sie im ganzen Empire wohl kaum eine Frau genoss, er hatte Nachsicht geübt und Gerede in Kauf genommen, weil er sie liebte, so wie sie war. Sie ahnte, dass sie diesmal zu weit gegangen war.
    »Möchtest du einen heißen Kakao trinken?«
    Thomas nickte ohne Begeisterung. Leah hob ihn hoch. Neugierige Blicke streiften ihren teuren Umhang und das feine Wollkleid. Sie ahnte, was in den Köpfen der größtenteils ärmlich gekleideten Passanten vorging: Es war unerhört, dass eine Dame von Stand ihr Kind selbst trug.
    Eine Viertelstunde später betrat sie das noble Restaurant des Hotels
Adelphi
und bestellte Kuchen und Kakao für sich und ihren Sohn. Beflissene Kellner eilten, die Wünsche der Dame zu erfüllen. Thomas taute zusehends auf. Selbstvergessen matschte er in seinem Apple Pie, während Leah ihre nächsten Schritte überlegte. Sollte sie nach London oder Southampton weiterreisen? Sollte sie umkehren und Bertrand um Verzeihung bitten? Sie wusste es nicht.
    »Mama?«
    »Ja, mein Liebling?«
    »Wann kommt Papa? Trinkt er einen Kakao mit uns?«
    »Ich weiß nicht, wann er kommt.«
    »Warum nicht? Ich will, dass er bald da ist. Ich muss ihm doch das lustige Zimmer zeigen. Schläft er auch da?«
    Sein unschuldiger Blick drehte Leah das Herz um. Ihr erster Impuls drängte sie, das Kind zu nehmen und in den nächsten Zug zurück nach Hause zu springen. Aber wo war es denn, dieses Zuhause? Sie spähte durchs Fenster. Graue Wolken verschluckten alle Farbe,

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