Die Insel der Orchideen
die Menschen hatten die Kragen gegen den peitschenden Regen hochgestellt. Leah vermisste ihr Leben im malaiischen Archipel unendlich. Die schillernden Farben von Bougainvillea und exotischen Eidechsen, den Duft von Frangipani, Mango und Bananen, den Geschmack von Chili, Muskat und Kardamom. Und die Wärme, diese wunderbare, feuchte, lebendige Wärme der Tropen, die den Menschen so leicht ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Mit Wehmut erinnerte sie sich der heimlichen Treffen mit Onkel Koh, der Fachsimpeleien mit Apotheker Ah, ihrer Streifzüge durch den Wald.
»Bald ist Weihnachten. Werden wir einen Christbaum haben? Bekomme ich ein Geschenk? Wann kommt Papa?«, unterbrach Thomas ihre Erinnerungen.
»Ich weiß es nicht«, stöhnte Leah.
Thomas legte den Kopf schief und sah sie konzentriert an. »Ist er nicht hier, weil ihr euch gestritten habt? Ist Papa böse auf uns?«
O Gott! Die kindlichen Fragen brachten Leah aus dem Konzept. Thomas verstand mehr, als ihr lieb war. Irgendwann in den letzten Monaten hatte er den Schritt vom stammelnden Kleinkind zu einem immer noch kleinen, aber erschreckend aufmerksamen Kind gemacht. In Zukunft würden sie und Bertrand sich in Thomas’ Gegenwart vorsehen müssen.
Sie und Bertrand? Hatte sie ihren Mann nicht gerade verlassen? Ihrer Flucht war ein heftiger Streit mit der Schwiegermutter vorausgegangen, der sich, wieder einmal, um Thomas’ Erziehung drehte. Als Bertrand dann auch noch die Partei seiner Mutter ergriff, anstatt sich hinter seine Frau zu stellen, war das Fass übergelaufen. Am Ende hatte sie ihrem Mann nur noch Vorwürfe an den Kopf geschmettert, und schon am nächsten Tag, Bertrand war mit seinen Eltern bei irgendwelchen langweiligen Nachbarn zu Besuch, war sie mit Thomas Hals über Kopf nach Liverpool gereist.
Die Zweifel nagten immer stärker an ihr. Hitzkopf, so hatte man sie genannt, seit sie denken konnte. Ungestüm sei sie, aufbrausend und verantwortungslos. Sie hatte nie etwas darauf gegeben, doch heute fragte sie sich zum ersten Mal, ob sie nicht gut daran täte, sich hin und wieder zu mäßigen.
»Was machen wir jetzt, Mama?«
»Erst mal wische ich dir den Mund sauber. Beug dich zu mir.« Liebevoll strich sie über Thomas’ Rotschopf. Er hatte die gleichen Haare wie sein Vater.
Plötzlich war alles klar.
Leah stand abrupt auf. »Komm«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Wir gehen zum Telegrafenamt und kabeln Papa eine Nachricht.«
Thomas drückte sich die Nase am Fenster platt, als die Eisenbahn in die Bassenthwaite Lake Station einfuhr. Wie bei jedem Halt, wenn die Dampflok fauchte und schnaufte wie der Drachen des heiligen Georg, musste Leah seine Hand halten, doch die Faszination, sich in einem rollenden Haus zu befinden, überwog bei weitem seine Angst. Er ist wie seine Eltern, dachte Leah. Ein geborener Entdecker.
Ihr krampfte sich der Magen zusammen. In wenigen Minuten musste sie sich Bertrands Zorn stellen. Sie hatte einen Riesenfehler gemacht und konnte nur hoffen, dass er sie nicht verstieß und von ihrem Kind trennte. Sie schluckte den aufwallenden Trotz hinunter.
»Da ist Papa!«
Leah war noch mit ihren Röcken beschäftigt, die sich prompt in den Eisenstufen des Waggons verheddert hatten, als Thomas schon auf seinen Vater zurannte. Bertrand schwenkte den kleinen Jungen überglücklich herum. Die Sonne stand tief und brachte die roten Schöpfe der beiden zum Lodern. Leah musste sich an dem Waggon abstützen. Wie hatte sie dieses Glück nur aufs Spiel setzen können? Sobald ihr Zittern verebbte, ging sie schüchtern auf ihre jauchzenden Männer zu, den großen und den kleinen.
Bertrand setzte Thomas ab. »Lauf«, sagte er zu ihm. »Joseph wartet dort drüben mit der Kutsche. Siehst du ihn winken?«
»Du und Mami, ihr streitet euch aber nicht mehr, bitte!«
»Wir streiten uns nicht. Großes Ehrenwort.«
»Dann ist es ja gut.«
Leah sah dem davonstiebenden Jungen mit gemischten Gefühlen nach. In Erwartung einer Standpauke neigte sie den Kopf. Sie schaffte es einfach nicht, Bertrand in die Augen zu sehen.
»Tu das nie wieder.«
Leah nickte, den Blick noch immer auf seine Schuhe geheftet. Er griff ihr unters Kinn und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. »Sag es.«
»Ich werde nie wieder weglaufen«, sagte sie kläglich. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Tränen an. Sie wollte nicht weinen und zwang sich zu einer aufrechten Haltung. »Ich bitte dich um Entschuldigung, und ich werde es akzeptieren, wenn du mich fortjagst. Nur
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