Die Insel der Orchideen
sie hoch. Im ersten Moment vermeinte sie, unter der Last des sich an sie krallenden jungen Mädchens zusammenzubrechen, doch die Panik verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Torkelnd verließ sie den Saal, begleitet vom schaurigen Wimmern der Zurückgelassenen. Der Rauch biss in ihre tränenden Augen, das Knacken über ihr wurde immer lauter und bedrohlicher. Ein brennendes Deckenstück sauste herab und traf sie am Arm. Scharfer Schmerz durchzuckte sie, doch sie hielt nicht an. Hustend stolperte sie ins Freie. Ein Soldat zerrte sie vom Haus fort, ein anderer nahm ihr die Frau ab, ein dritter erstickte die Flammen an ihrem Kleiderärmel. Johanna wollte noch einmal hineinstürzen, als sie zurückgerissen wurde. »Warten Sie!«, brüllte Chee Boon Lee. »Da!«
Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, Funkengarben zischten nach allen Seiten durch die Luft. Mit schreckgeweiteten Augen musste Johanna mit ansehen, wie die Stützbalken barsten, Wände zersplitterten und das Dach einbrach. Alle zum Löschen Herbeigeeilten zogen sich in einem weiten Kreis zurück, ohnmächtig ob der Urgewalt des Feuers.
Als Johanna begriff, dass ihre Klinik zum Grab für mindestens zwei Menschen geworden war, begann sie zu schreien. Kaum bemerkte sie, wie Chee Boon Lee sie zur Kutsche zurückführte und nach Hause brachte, wie sich Ping und Mercy um sie bemühten, wie Doktor Ward ihr einen Löffel Laudanum einflößte, um dann ihre Verbrennungen zu versorgen.
Umsonst, dachte sie, bevor sie in opiumschweren Schlaf glitt. Alle ihre Anstrengungen waren umsonst gewesen.
* * *
Die Wochen nach dem Brand verbrachte Johanna in einem Taumel aus Schmerz und Selbstvorwürfen. Obwohl ihre Verbrennungen nicht lebensbedrohlich waren, raubten die Schmerzen ihr den Schlaf. Doktor Ward legte ihr nahe, Morphium einzunehmen, doch sie weigerte sich standhaft. Während alle Welt inklusive des Pastors sie von jeglicher Schuld am Tod der beiden Patientinnen freisprach, betrachtete sie selbst das höllische Brennen als Strafe. Die Frauen hatten sich vertrauensvoll in ihre Obhut begeben, doch sie hatte gefeiert, während das grausame Feuer in der Küche seinen Anfang nahm.
Chee Boon Lee besuchte sie. Er war sichtlich erschüttert und konnte seinen Blick kaum von dem rohen, nur langsam heilenden Fleisch an ihrem Arm und ihrem Hals nehmen. Über einen Wiederaufbau der Klinik sprachen sie nicht. Johanna war es recht. Sie würde nie wieder genügend Kraft aufbringen können, um einen zweiten Versuch zu wagen.
»Die Köchin der Klinik schwört, alle Lampen und auch das Küchenfeuer gelöscht zu haben, bevor sie ging.«
Johanna schrak auf. Was hatte Boon Lee gesagt?
Er wiederholte den Satz. Johanna starrte ihn an, nur langsam sickerte die Bedeutung des Gesagten in ihren Kopf.
»Glauben Sie ihr?«, fragte sie alarmiert.
Er zuckte die Schultern. »Sie ist eine vertrauenswürdige Person, doch auch dem sorgfältigsten Menschen kann ein glimmender Holzscheit entgehen.«
Der Stachel des Zweifels bohrte sich in Johannas Fleisch. »Das mag sein«, sagte sie gedehnt. »Aber der Herd ist aus Stein und Eisen, die Klappe geschlossen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, nicht wahr?«
Er stand auf und ging zum Fenster. Lange sah er in den Garten hinaus, dann drehte er sich um. »Nicht jeder hat die Klinik gutgeheißen«, stellte er fest.
Johanna schüttelte den Kopf. Ein Fehler. Sofort schoss es glutheiß in die Wunden. Sie biss die Zähne zusammen, bis der Schmerz auf ein erträgliches Maß abebbte. »Brandstiftung?«, fragte sie keuchend.
Chee Boon Lee nickte ernst. »Es ist nicht auszuschließen. Beweisen werden wir es allerdings nie.«
Die Wunden an Hals, Schulter und Arm verheilten zu narbigen, entstellenden Wülsten. Johanna war es gleichgültig. Die Narben auf ihrer Seele hingegen machten ihr zu schaffen. Zaghaft war sie geworden, des Lebens müde. Selbst die Beschäftigung mit den Kindern erschöpfte sie.
Sie verließ das Grundstück nicht mehr, saß ganze Tage im Schatten des Tamarindenbaums und hing ihren Erinnerungen nach. Nicht den schönen, nein. Sie kasteite sich mit den Abschieden, den Verlusten, die sie im Laufe ihres Lebens bereits erlitten hatte: die Ermordung des Vaters, Leahs Flucht und Henrys Abreise, die Leidenszeit der Mutter. Vor allem ein Bild hatte sich jedoch in ihr Gedächtnis gebrannt. Sobald sie die Augen schloss, griffen die hilfesuchend ausgestreckten Hände der todgeweihten Frauen im Krankensaal nach ihr, verfolgten sie bis in ihre Träume,
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