Die Insel der Orchideen
Weile, die sie benötigte, um dem Durcheinander ihrer Gefühle Herr zu werden. Er schob das Mädchen vor Johanna. »Und sie war es auch, die aus eigenem Antrieb zu mir kam und um den Aufbau einer neuen Station bat.« Er lachte fröhlich auf. »Sie nahm mich regelrecht in die Pflicht. Sie können sehr stolz auf Ihre Ziehtochter sein, Mrs von Trebow.«
Johanna sah ihn an. In seinem Gesicht leuchtete der Stolz, den er von ihr einforderte. Meine Ziehtochter?, dachte sie. Ihre Tochter, verehrter Freund. Ich hoffe inständig, dass Sie ihr eines Tages die Wahrheit eröffnen.
22
Juli 1874 , vier Jahre später
D ie Abschiedsfeier für Carl und Roy war in vollem Gange. Mit der Einwilligung ihrer Eltern richteten die Siebzehnjährigen ein rauschendes Gartenfest aus. Selbstverständlich kamen ihre Freunde in Begleitung ihrer Eltern und Geschwister, und auch die von Trebows fehlten nicht. Johanna hatte sich ein wenig abseits unter einen Baum gesetzt und beobachtete das fröhliche Treiben. Gerade beugte einer der Robinson-Zwillinge galant seinen Kopf über die Hand einer schamhaft kichernden jungen Dame von vielleicht fünfzehn Jahren. Johanna staunte. Hatte sie sich nicht erst kürzlich über einen der Streiche von Mercys Söhnen geärgert? Über ihre Arbeit in der Klinik und seit einigen Monaten auch im Kontor, wo sie sich von Franklin Cameron in regelmäßigen Abständen die Bücher vorlegen ließ, hatte sie den Zeitpunkt verpasst, an dem aus den wilden Jungen charmante junge Männer geworden waren.
Sie entdeckte Mercy auf der Veranda. Wehmütig betrachtete ihre Freundin die Söhne. Schon am morgigen Abend würden die Zwillinge an Bord eines Schiffes nach Kalkutta gehen, das sie zu den dortigen Colleges und Universitäten brachte. Johanna wusste, dass Mercy der Abreise der beiden mit Bangen entgegensah, doch es gab keine Alternative. Singapurs Schulen waren eine Schande für die Stadt. In der Regel verließen die Familien, wenn ihre Kinder der Grundschule entwachsen waren, die Kolonien und gingen zurück nach Europa, eine Lösung, die von den Robinsons zwar diskutiert, jedoch verworfen worden war. Ebenso wie Johanna hatten sie hier starke Wurzeln geschlagen und gedachten, ihr weiteres Leben in Singapur zu verbringen. Die Jungen sahen der Trennung gelassen entgegen und trösteten ihre Mutter damit, dass man sich doch einmal im Jahr besuchen könne.
Johanna fröstelte, als ihr bewusst wurde, dass auch ihr nur eine Gnadenfrist gewährt wurde. Hermann, mit seinen fünfzehn Jahren zwar noch mehr Kind als Mann, veränderte sich in rasantem Tempo, beinahe vermeinte sie zuschauen zu können, wie er wuchs, während seine Stimme seit einigen Monaten Kapriolen schlug. Noch zwei Jahre, vielleicht drei, dann musste auch er die Insel verlassen und für viele Jahre in der Ferne leben. Im Gegensatz zu den Robinsons würde sie ihn nicht besuchen können, denn dazu fehlten ihr schlicht die Mittel.
Helles Mädchenlachen ließ sie aufhorchen. Gerade forderte der andere Zwilling ihre Tochter zum Tanz auf, um dann unbeholfen mit ihr über den Rasen zu hüpfen. Es war Roy, Dinahs selbsternannter Ritter. Das Lied klang aus, und die Kapelle zog sich zu einer Pause zurück. Die Kinder blieben beieinander stehen, erzählten sich lachend etwas. Es tat gut, sie so zu sehen. Über Jahre waren Lily und Dinah Anfeindungen ausgesetzt gewesen, und es war nur Lilys Stärke sowie der unerschütterlichen Treue der Robinson-Zwillinge zu verdanken, dass sie nicht daran zerbrochen waren. Erst als Mrs Harrington samt Familie im letzten Jahr die Rückreise nach England angetreten hatte, besserte sich die Lage.
Friedrich trat auf die Veranda. Selbst aus der Ferne wirkte er erbarmungswürdig. Seine Kleidung schlotterte um seinen vor der Zeit gekrümmten Körper, der Kopf pendelte fahrig hin und her. Für einen Moment stand er dort im Licht, die Hände auf die Balustrade gestützt, dann ging er zielstrebig zu der Kindergruppe hinüber. Zu Johannas und auch der Kinder Verwunderung drückte er nacheinander Hermann, Dinah und sogar Lily an sich, bevor er sich abrupt umdrehte und zum Gartentor eilte.
Johanna verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, mit ihm zu reden, doch sie war zu weit entfernt, um ihn einzuholen. Als sie auf die Straße trat, entschwand seine hagere Gestalt gerade in der Dunkelheit. Trotz der Wärme lief ihr ein Schauder über den Rücken. Lange blieb sie am Tor stehen, dann zuckte sie mit den Schultern und mischte sich wieder unter die
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