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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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ihn, sondern der Ausdruck ihrer Augen. Sie war nicht mehr Herrin ihrer Sinne. Er ließ die Reisetasche fallen und tat einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie wich zurück und spannte gleichzeitig den Hahn. Henrys Gedanken rasten. Woher wusste sie, wie man schießt? Dunkel erinnerte er sich, dass ihr Vater ein begeisterter Jäger war.
    Er richtete sich zu voller Größe auf. »Amelia, gib mir die Waffe!«, donnerte er.
    Der Pistolenlauf zitterte, blieb jedoch weiterhin auf seine Brust gerichtet. Er warf sich nach vorn und hieb gleichzeitig nach der Waffe.
    Der Knall erschütterte das ganze Haus, rollte zwischen den Wänden der Eingangshalle hin und her. Im ersten Moment meinte Henry, seine Trommelfelle seien geplatzt. Dumpf vernahm er Amelias Aufschrei und dann einen zweiten, tiefer, doch nicht weniger schrill: Oscar. Hatte sein Sohn alles beobachtet? Er schlug hart auf dem Boden auf, und erst dann spürte er das heiße Feuer in seinem Leib. Er krümmte sich, seine Hand fühlte warmes Blut, er empfand nur noch gleißenden, kreischenden Schmerz. Amelias entsetztes Antlitz schob sich in sein Gesichtsfeld. Sie bewegte die Lippen, doch er war taub. Ein letztes Mal bäumte er sich auf. Johanna wartete auf ihn! Dann glitt er in die Dunkelheit.
     
    Die Schiffssirene tutete mehrmals hintereinander, die letzte Warnung für säumige Passagiere. Schon nahmen sehnige Matrosen neben den Pollern Aufstellung, die Maschinen stampften, Rauch quoll aus dem Schornstein; nur noch wenige Minuten, bis die Gangway eingezogen wurde, und noch immer keine Spur von Henry. Johanna beugte sich über die Reling, suchte die Menschenmenge mit den Augen ab, in der Hoffnung, er würde sich im letzten Moment noch zum Schiff durchdrängeln.
    In atemberaubendem Tempo raste eine Kutsche vor. Johanna krallte ihre Hände ums Geländer. Ein Mann stieg aus. Erneut ein Tuten. Sie fixierte den Mann, mit entnervender Langsamkeit drehte er sich um, es war nicht Henry. Die Gangway verschwand polternd in der Luke im Schiffsrumpf. Johanna starrte auf die langsam kleiner werdende Menge auf dem Pier. Er war nicht gekommen.
    Er hatte sich für Amelia entschieden.
    * * *
    Es war so weit. Unaufhaltsam schob sich die
Queen of the Far East
am Morgen des vierten Reisetages in die Sundastraße zwischen den gewaltigen Inseln Sumatra und Java, die den Indischen Ozean mit der Javasee verband.
    Lily lief unruhig auf dem Deck auf und ab, kaum warf sie einen Blick auf die wilde Schönheit der Küste und den spitzkegeligen Vulkan, der den Eingang der Meeresstraße bewachte. Selbst für die drei Rauchsäulen, die über einer weit entfernten Insel in den Himmel stiegen und Bowies Aufmerksamkeit auf sich zogen, fehlte ihr das Interesse. Ihre Gedanken waren einzig auf die bevorstehende Ankunft in Anjer gerichtet. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. War sie in den ersten Tagen noch sicher gewesen, ihre Mutter umgehend aufsuchen und zur Rede stellen zu wollen, befielen sie nun Zweifel. Es lag ihr fern, Leahs guten Ruf durch unbedachtes Handeln zu gefährden. Vielleicht war es besser, sie suchte ihre Bekanntschaft zunächst unter falschem Namen? Wenn sie erst wusste, wie ihre Mutter lebte, wie sie war, konnte sich Lily immer noch entscheiden.
    Das Schiff dampfte an einer kleinen Insel vorbei, die ihnen die Sicht auf den rauchenden Vulkan nahm. Bald darauf schälte sich ein verschlafenes Städtchen aus dem Grün der javanischen Küste. Imposante Tamarinden, Mangobäume und Kokospalmen beschatteten die Straßen und hübschen Bungalows, die sich von der Küste bis zum Hang eines Hügels erstreckten.
    »Anjer«, sagte Bowie. »Haben Sie schon gepackt?«
    Als Lily nickte, wies er einen Matrosen an, ihr Gepäck zum Ausstieg der Gangway zu bringen. Er empfahl sich, um dem Kapitän letzte Anweisungen zu geben.
    Lily beschirmte die Augen. In einem der Bungalows lebte ihre ahnungslose Mutter mit ihrer Familie. Stärker denn je zweifelte sie an ihrem Vorhaben. Sie sollte die Frau in Ruhe lassen, es ging ihr doch gut bei Johanna. Nichts war leichter, als Bowie zu bitten, einfach wieder abzulegen und direkt nach Batavia weiterzufahren. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach ihm machen, als sie vom Pier aus gerufen wurde. Bowie stand mit ihrem Koffer zwischen hin und her eilenden javanischen Lastenträgern und winkte ihr zu. »Kommen Sie. Ich kann es kaum erwarten, den Sonnenuntergang mit einem Drink auf der Hotelterrasse zu zelebrieren.«
    Seine erwartungsvolle Miene gab den

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