Die Insel der Orchideen
streckte er die Hand aus und packte seinen Sohn am Kragen.
»Du wirst den Mund halten. Und jetzt geh mir aus den Augen.«
Oscar wischte sich Blut von der Lippe und spuckte aus. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Büro. Kurz darauf hörten sie ihn unten auf der Straße nach einer Kutsche rufen.
Johanna stand wie betäubt mitten im Raum. Henry machte eine Geste, als wolle er sie umarmen, unterließ es jedoch. »Er wird nicht schweigen«, sagte er.
»Nein, das wird er nicht.« Johanna lehnte sich gegen die Schreibtischkante. Das massive Möbel gab ihr die Illusion von Halt, während der Rest der Welt schwankte wie ein dem Untergang geweihtes Schiff im Tropensturm. »Und Amelia wird nicht zögern, alles hinauszuposaunen.« Sie sah auf. »Es lässt sich nicht ändern. Ich werde Chee Boon Lee eine Nachricht nach Johor schicken. Er muss zurückkehren und sehen, wie er den Schaden eindämmt.«
»Und du?«
»Ich folge Lily. Ich mache mir fürchterliche Sorgen um sie. Und ich verstehe einfach nicht, warum Ross geschwiegen hat. Vielleicht hat er sie entführt.«
Henry nahm den Brief auf. »Von Entführung kann keine Rede sein«, sagte er, nachdem er ihn gelesen hatte. »Sie schreibt, dass sie freiwillig an Bord gegangen und froh ist, mit Bowie einen Freund an ihrer Seite zu wissen.«
»Er hat sie gezwungen, den Brief zu schreiben.«
»Und warum?«, fragte Henry überraschend scharf. »Dein Verhältnis zu Bowie mag schwierig sein, aber für Lily hat er eine Schwäche. Denk an den Eklat bei Dinahs Hochzeit. In Wahrheit sorgst du dich doch nur, dass Leah dir Lily abspenstig machen könnte.«
Johanna sackte in sich zusammen. Henry hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er kannte sie gut genug. »Du hast recht«, presste sie hervor. »Es ist besser, ich belästige dich nicht weiter mit meinen Problemen. Auf Wiedersehen.«
»So habe ich es nicht gemeint. Entschuldige, ich bin ziemlich durcheinander. Als wäre die Situation nicht schon verfahren genug.« Impulsiv presste er sie an sich. »Natürlich helfe ich dir, wo ich kann.«
»Ich muss nach Anjer«, sagte Johanna. »Retten, was zu retten ist.«
»Ich begleite dich. Wann geht das nächste Postschiff?«
»Übermorgen.«
* * *
Henry sah sich ein letztes Mal in dem pompösen Salon um. Sein Blick glitt über die schweren Samtvorhänge, die üppig gepolsterten Diwans und ähnlich deplazierte Requisiten. Amelia stemmte sich mit Macht gegen die Tatsache, dass dieses Haus nicht in England, sondern in den Tropen stand. Wie sehr unterschied es sich doch von dem sparsam eingerichteten, hellen Haus in der Waterloo Street! Dort konnte man frei atmen, während ihm sein eigenes Heim vorkam wie eine Gruft. Die Standuhr schlug vier Uhr am Nachmittag. Er musste sich sputen, um rechtzeitig zum Hafen zu kommen, wo er mit Johanna an Bord des Postschiffes nach Batavia gehen wollte. Entschlossen hob er seine Reisetasche auf und schritt zur Tür. Wenn er aus Anjer zurückkehrte, würde sich einiges ändern. Auch die Möbel.
Kurz vor der Haustür trat ihm Amelia mit auf dem Rücken verschränkten Händen in den Weg. Er hatte sie seit dem Streit am gestrigen Abend, als er sie von seinen Reiseplänen unterrichtet hatte, nicht mehr gesehen. Heftige Worte waren gefallen, und am Ende hatte er ihr mit Konsequenzen gedroht, sollte sie ihr Wissen über Lily nicht für sich behalten. Sie hatte geschrien und gejammert, bis er sie in ihrem düsteren Schlafzimmer einfach hatte sitzen lassen.
»Geh mir aus dem Weg, Amelia«, verlangte er. »Ich habe es eilig. In spätestens drei Wochen bin ich zurück. Bis dahin kannst du dir überlegen, wie sich unser weiteres Leben gestalten soll.«
»Ich will nicht, dass du mit dieser …« Sie biss sich auf die Lippen. Er konnte sehen, dass sie sich nur mit Mühe ein Schimpfwort verkniff. Sie reckte das Kinn. Erstaunlich gefasst sagte sie: »Du wirst nicht abreisen.«
»Du wirst mich nicht daran hindern.«
»Ach nein?« Mit einem Ruck riss sie die Hände, die sie die ganze Zeit hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, nach vorne.
Henry taumelte zurück. Sie hielt eine Pistole auf seine Brust gerichtet.
Seine
Pistole, das Geschenk eines Geschäftspartners, das seit Monaten unbenutzt und unbeachtet in seinem Sekretär geruht hatte. Ungeladen. Er trat einen Schritt auf seine Frau zu und streckte die Hand aus. »Gib mir die Waffe. Damit kann man viel Unheil anrichten.«
»Vielleicht will ich das ja?«
Henry erschauerte. Nicht die Pistole beunruhigte
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