Die Insel der Orchideen
Ausschlag. Sie würde an Land gehen. Sie würde Leah treffen. Morgen. Oder übermorgen.
Als sie den Pier betrat, stutzte sie. Die Erde zitterte stark genug, dass sie es spüren konnte. Irritiert blickte sie über ihre Schulter, aber der Schiffsrumpf versperrte die Sicht auf den rauchspuckenden Berg.
27
25 . August 1883 , vier Tage später
W ie jeden Morgen huschte Leah nach dem Aufstehen auf die Veranda, um einen Blick zur Insel Krakatau zu werfen. Seit der Vulkan vor drei Monaten aus seinem Schlaf erwacht war, standen graue Rauchsäulen über der Insel. Immer wieder hallte der Donner gewaltiger Explosionen übers Meer, und die Erde bebte. Nachdem es einige Wochen lang schien, als hätte sich die Lage beruhigt, war nun der Zorn der Vulkangötter, die nach javanischem Glauben in jedem Feuerberg lebten und durch Opfergaben bei Laune gehalten werden mussten, erneut entfacht.
Vor einigen Tagen hatte sich ein holländischer Kapitän zur Insel gewagt. Leah hätte ihn liebend gern nach seinen Beobachtungen befragt, doch er hatte sein Schiff anschließend umgehend nach Batavia gesteuert, ohne Anjer einen Besuch abzustatten. Als sie überlegte, ein Schiff zu chartern, um sich persönlich ein Bild der auf Krakatau waltenden Urkräfte zu machen, biss sie auf Granit: Bertrand verbot ihr die Expedition. Aus gutem Grund, wie sie sich eingestand, und doch reizte sie das Abenteuer ungemein. Als ihre beiden Männer vor ein paar Tagen zu einer einwöchigen Exkursion ins Hinterland aufgebrochen waren, zog sie es vor, allein zurückzubleiben; sie wollte keinen Tag verpassen, den Vulkan zu beobachten, die Höhe der Rauchsäulen zu messen und Zeichnungen anzufertigen. Wann hatte ein Mensch schon die Möglichkeit, ein derartiges Spektakel zu beobachten und zu dokumentieren? Seit vorgestern steigerte sich die Aktivität des Vulkans zudem noch. Riesige Rauchwolken quollen aus seinen drei Kratern unaufhörlich gen Himmel und hüllten die Insel ein. Auf Schiffe, die sich zu nahe heranwagten, regnete es feine Asche herab.
»Mem?«
Auf leisen Sohlen trat die javanische Dienerin Shinta neben Leah und setzte ein Tablett mit Fruchtsalat, Kaffee und Reisporridge auf dem Tisch ab, bevor sie sich ebenfalls ans Geländer stellte und zu dem Rauch hinübersah.
»Wir sollten gehen«, sagte sie leise. »Viele haben sich schon in die Berge zurückgezogen.«
»Warum? Es liegen etliche Kilometer Wasser zwischen uns und der Insel.«
Die junge Frau schauderte. »Der Wassergeist«, flüsterte sie. »Er könnte vom Lärm der Feuerberge geweckt werden und große Wellen senden. So erzählen es die Alten.«
»Aber erlebt hat das noch niemand?«
Shinta schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Wolke zu nehmen.
Leahs Neugierde war geweckt. »Kannst du mich einem deiner Alten vorstellen, damit er mir mehr darüber berichtet?«
»Sie sind schon fort. Wir sollten ihnen folgen.«
»Wenn du möchtest, kannst du gehen. Ich komme auch allein zurecht.«
»Aber Sie müssen mitkommen«, beharrte die junge Frau.
»Ich komme nach, sobald mein Mann und mein Sohn zurück sind.«
»Versprechen Sie es?«
Leah lachte. »Du kennst mich gut, Shinta. Ich verspreche es nicht, aber du solltest wirklich gehen. Schicke bitte Aziz und Ijah zu mir. Auch sie sollen sich nicht zum Bleiben verpflichtet fühlen.«
Shinta musterte Leah mit einer Mischung aus Verwunderung und Dankbarkeit, dann wirbelte sie davon, um ihre wenigen Habseligkeiten zu packen und in ihr Heimatdorf irgendwo im Hinterland zu flüchten. Zwei Stunden später war sie fort, gemeinsam mit Aziz und Ijah. Auch das ältere Ehepaar hatte versucht, Leah umzustimmen, doch sie blieb dabei: Ohne Bertrand und Thomas ging sie nirgendwohin.
Nach einem kurzen Mittagsschlaf briet sich Leah in der verwaisten Küche eine Handvoll Nudeln. Sie spürte leichte Kopfschmerzen und Gliederschwäche, so wie die beiden Male zuvor, als sich ein Malariaanfall angekündigt hatte. In wenigen Stunden würde das Fieber sie aufs Lager zwingen, aber noch blieb etwas Zeit. Sie stellte Wasser und Wadenwickel für die schlimmen Stunden bereit, schluckte bitteres Chininpulver und begab sich mit ihren Zeichenutensilien auf ihren Aussichtsplatz. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht im Delirium lag, wenn der Vulkan ausbrach. Das wollte sie um keinen Preis der Welt verpassen. Kurz überlegte sie, eine Matte auf der Veranda auszurollen, doch sie verwarf die Idee. Spätestens wenn die Dunkelheit kam, wäre sie für einige Stunden wehrlos und
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