Die Insel der Orchideen
Vater noch seiner Frau und den Töchtern, doch Leah war zu intelligent, sich mit den engen, von der Gesellschaft vorgegebenen Grenzen zufriedenzugeben.
Nachdem Hermann-Otto Uhldorff den Suppenkoch bezahlt hatte, schlugen sie die Richtung zum Meer ein. Je dichter sie der Telok-Ayer-Bucht kamen, desto schmaler wurden die Straßen, desto dicker hingen die Dünste von Kochfett und Exkrementen, von verrottendem Obst und süßem Opium zwischen den zwei- und dreistöckigen Häusern. Statt Fahnen flatterte Wäsche an langen Stangen. Es war so drückend, dass Leah der Schweiß aus allen Poren brach. Sie versuchte zu erspähen, was sich hinter den vorhanglosen Fenstern verbarg, doch dort herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Dafür hämmerten und sägten, drechselten und nähten die Handwerker direkt vor ihren Werkstätten auf dem Boden, in der in Asien üblichen Kauerstellung.
An einer Kreuzung bogen sie nach links. Kaum ein paar Schritte in der Gasse, wurde vor ihnen eine Tür aufgestoßen. Zwei stämmige chinesische Männer stießen einen dritten in eine übelriechende Pfütze, wo er bäuchlings liegen blieb. Hermann-Otto Uhldorff trat ohne Zögern zu dem Mann und drehte ihn auf den Rücken. Leah stieß einen entsetzten Schrei aus. Der Mann war so dürr, dass sein Rippenkäfig wie mit einem Beil aus seinem Körper herausgehauen schien. Kein Quentchen Fleisch polsterte seine Knochen, fahlgelbe Haut spannte sich über den Schädel. Seine Augen starrten ins Nichts.
Mit zitternden Knien näherte sich Leah dem Mann. »Lebt er?« Sie hoffte es sehr, doch zugleich spürte sie die Kälte des Todes. Ein Eishauch zog durch die Gasse, als die Seele des Mannes an ihr vorbeistrich, gebettet in die Arme eines jener glubschäugigen, scharfzahnigen Dämonen, die sie vor wenigen Minuten am Eingang eines Tempels betrachtet hatte. Ungeachtet des den Mann bedeckenden Schlamms suchte Hermann-Otto Uhldorff nach seinem Puls, schloss ihm dann sanft die Augen und schlug ein Kreuz über ihm. Mittlerweile hatten sich einige Schaulustige um sie gruppiert, und Leah konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Interesse mehr ihr und ihrem Vater galt als dem Toten. Schließlich fassten mehrere Männer die Leiche an Armen und Beinen und schleppten sie fort wie ein Gepäckstück. Die Versammlung löste sich auf. Das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Leah musste sich gegen die Hauswand lehnen. Sie war zutiefst erschüttert über diese Gleichgültigkeit.
Hermann-Otto Uhldorff wischte sich die Hände an seinem Sacktuch ab. »Opium«, sagte er gepresst. »Der Fluch der chinesischen Arbeiter.« Er knüllte das Tuch zusammen und schleuderte es wütend in die Pfütze. »Die Ostindien-Kompanie und ihre Handlanger sollten sich schämen. Nur um des Profits willen überschwemmen sie das Reich der Mitte mit diesem Höllenzeug. Es ist eine Schande für jeden Christen!«
Leah erschrak. Einen Ausbruch wie diesen hatte sie bei ihrem Vater noch nie erlebt. In schneller Folge sah sie Wut und Kampfeslust, Resignation und Ohnmacht über sein Gesicht ziehen. Schüchtern griff sie nach seiner Hand.
»Lass uns nach Hause gehen. Ich habe für heute genug gesehen.«
Wenig später entlohnte Hermann-Otto Uhldorff den Kutscher für die Fahrt zurück zur Waterloo Street. Leah hatte einen Kloß im Hals. So schön war dieser Tag gewesen, trotz des Vorfalls mit dem toten Opiumraucher, und so schrecklich war die Aussicht auf die endlosen Wochen, vielleicht Monate ohne ihren Vater. Als er sich anschickte, in den Garten zu treten, umklammerte sie ihn wie eine Ertrinkende. Er roch nach Talkumpuder und Tabak, nach Eau de Cologne und Geborgenheit – einer Geborgenheit, die sie bei der Mutter nie gefunden hatte. Sie waren verschworen gewesen, seit sie denken konnte, von niemand anderem hatte Leah je Verständnis für ihre Andersartigkeit erfahren.
Jetzt ließ er sie allein in einer Welt, in der es für wissbegierige, selbständige Mädchen keinen Platz gab.
4
Dezember 1856 , vier Monate später
Z eigen Sie uns doch bitte auch noch dieses Kleid.«
Der Ladenassistent kam Mercys Aufforderung nach und breitete ein smaragdgrünes Ballkleid auf dem Tresen aus. Johanna bewunderte die Gelassenheit des jungen Mannes. Ohne mit der Wimper zu zucken, kam er den Wünschen ihrer Freundin nach, während Mercys undiplomatische Bemerkungen über die Qualität der Waren ihr die Schamröte ins Gesicht trieben. Dabei hätte sie es ahnen müssen, schließlich war dies nicht
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