Die Insel der Orchideen
ungesunden Klima in Hongkong. Was in China auf uns zukäme, wissen wir ja noch gar nicht.« Er seufzte. »Andererseits fällt es mir schwer, meinen Traum von China fallen zu lassen, und ich fühle mich dir verpflichtet. Ich habe mich zu einem Kompromiss durchgerungen.«
Liebe durchströmte Johanna; ihr Vater war so anders als viele Männer. Liebevoll, geduldig und – was das wichtigste war – er nahm sowohl die Mutter als auch die Töchter ernst.
»Sobald sich unser Leben im neuen Heim eingespielt hat, werde ich nach Hongkong und Kanton segeln. Allein.« Er hob die Hand. »Lass mich ausreden. Die Mutter ist auf deine Fürsorge angewiesen. Mit Leah werde ich sprechen, damit sie dir in Zukunft mehr zur Hand geht. Sobald ich mir ein Bild von der Situation in China gemacht habe, entscheide ich das Weitere. Entweder ihr reist mir nach, oder aber ich werde in Singapur mit Keasberry zusammenarbeiten, in der Hoffnung, die Missionsgesellschaft kommt auch hier für unseren Unterhalt auf. Ich sage es nicht gern, aber du solltest wissen, dass wir ohne mein Einkommen nicht in Asien bleiben können. Unsere Rücklagen wären schnell aufgebraucht.«
»Aber Friedrich und ich wollen doch heiraten.«
»Dabei bleibt es selbstverständlich. Friedrich ist ein umsichtiger und ehrenhafter junger Mann, der Verständnis haben wird. Ihr braucht ja nur so lange zu warten, bis ich mich wieder um Mutter kümmern kann.«
Johanna schwieg betroffen. Sie hatte nicht bedacht, dass ihre bevorstehende Hochzeit mit der Trennung von der Familie einhergehen konnte. Ihr war kläglich zumute.
Wie so oft las der Vater in ihr wie in einem offenen Buch. »Mir gefällt der Gedanke auch nicht, dich ziehen zu lassen, aber das Postschiff braucht nur eine Woche«, sagte er. »Wir könnten einander besuchen. Vielleicht kommt es aber gar nicht so weit: Sollte ich mich gegen China entscheiden, werde ich mit Friedrich sprechen. Vielleicht kann er sich mit dem Gedanken anfreunden, sich in Singapur niederzulassen. Die Erfolgsaussichten sind in beiden Kolonien gleich.«
»Das wäre schön«, flüsterte Johanna.
»Alles wird gut, du wirst sehen.« Der Vater schlug nach einem Moskito und stemmte sich aus dem Stuhl hoch. »Lass uns hineingehen. Es duftet schon verheißungsvoll aus der Küche. Was gibt es denn?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte sie schuldbewusst. »Über Mercys Besuch habe ich alle Pflichten vergessen. Lim wird wohl etwas Chinesisches zubereitet haben.«
»Lim heißt er? Scheint ein anständiger Kerl zu sein. Wenn sein Essen so gut schmeckt, wie es riecht, solltest du ihm ein paar Küchengeheimnisse entlocken.«
* * *
Drei Wochen nach dem Ereignis mit dem Tausendfüßler, der seitdem in einer Kiste auf der Uhldorffschen Veranda wohnte und womöglich noch größer geworden war, fuhr Leah mit ihrem Vater in einem Palanquin in Richtung des Flusses. Vor der Thompson’s Bridge, einer für Fahrzeuge aller Art gesperrten wackeligen Holzkonstruktion, zügelte der Kutscher sein struppiges Pferd. Jedermann, ob reich oder arm, musste sich zu Fuß auf die andere Seite begeben. Leah hielt es nicht mehr auf dem Sitz. Sie stieß die Tür der Kutsche auf und sprang nach draußen, bevor Hermann-Otto Uhldorff ihr helfen konnte. Wohl hatte sie bereits einige Male mit dem Vater und Johanna den Fluss überquert, um bei
John Little & Company
am Commercial Square Einkäufe zu tätigen, noch nie hatte sie jedoch auch nur einen Fuß in den südlich des Flusses gelegenen chinesischen Teil der Stadt gesetzt, jenes geheimnisvolle Viertel mit seinen drachenverzierten Tempeldächern, das sie seit der Ankunft in Singapur magisch anzog. Letzte Woche hatte Hermann-Otto Uhldorff seine Frau und Töchter gefragt, welchen Wunsch er ihnen vor seiner Abreise nach China erfüllen könne, und Leah hatte ihn um einen Ausflug ins Chinesenviertel gebeten. Der letzte Nachmittag, bevor der Vater morgen an Bord der Brigg
Corcyra
ging, gehörte ihr und ihm allein.
»Du hast deinen Parasol vergessen.«
»Oh.« Leah nahm ihm das japanische Seidenschirmchen ab und klemmte es unter den Arm.
»Willst du ihn nicht aufspannen?«
»Er hindert mich daran, alles zu sehen.«
»Du verdirbst dir deinen Teint.«
»Na und?« Lachend mischten sich Vater und Tochter unter die Fußgänger und überquerten die schmale Brücke. Als Hermann-Otto Uhldorff auf eine der am anderen Ende wartenden Kutschen zuging, hielt Leah ihn zurück.
»Lass uns gehen!«
Uhldorff zögerte. »Ich weiß nicht, ob das
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