Die Insel der Orchideen
Farben, pinkfarbene Bougainvillea, kirschroter Hibiskus und Helikonien, Vogelköpfchen ähnlicher als Pflanzen, wetteiferten um die Aufmerksamkeit der Besucher, doch die hatten keinen Sinn für Schönheit. Gierig schlangen die Männer, deren Baumwollhosen und arbeitsrissige Haut vor dem glanzvollen Hintergrund doppelt so elend wirkten, das bereitgestellte Essen in sich hinein, lachten, johlten, wetteten und genossen den Tag.
Auf der Veranda des dem Garten an Pracht nicht nachstehenden Hauses entdeckte Leah einen Chinesen mittleren Alters. In ein seidenes Festtagsgewand gehüllt, eine dunkle Kappe auf dem Kopf, überschaute er würdevoll das Treiben in seinem Garten. Whampoa! Leah erinnerte sich an sein Gesicht. Der Chinese war ihr nie vorgestellt worden, doch sie hatte ihn auf dem Silvesterball gesehen. Er war einer der reichsten Männer Singapurs. Jetzt verstand sie auch die Anwesenheit der Arbeiter – einmal im Jahr öffnete Whampoa die Pforten zu seinem Märchengarten, damit jedermann, ungeachtet seines Standes, sich daran ergötzen konnte.
Leah wanderte tiefer in den Garten hinein und gelangte zu einem Teich. Eine zierliche Steinbrücke spannte sich darüber, mehr Dekoration als zu praktischem Nutzen. Sie konnte nicht widerstehen und betrat die Brücke. Auf dem Scheitelpunkt verharrte sie. Unter ihr tummelten sich Goldfische, Schildkröten paddelten zwischen Lotosblüten oder sonnten sich auf deren Blättern, die als kreisrunde grüne Inseln auf dem Teich trieben, in den Bäumen aufgehängte Lampions spiegelten sich im Wasser. Deutlicher noch als zuvor spürte Leah die Nähe des Vaters, seine Gegenwart umfing sie tröstend und zart wie ein seidenes Spinnennetz, und langsam, ganz langsam verging die Taubheit in ihrem Körper. Tränen stiegen ihr in die Augen, rannen die Wangen herunter und tropften in den Teich. Die Fische schnellten herbei. Leah weinte stumm, verzweifelt. Nur allmählich versiegten die Tränen. Sie schnäuzte sich in den Hemdsärmel. Noch immer hielt sie die Augen auf den Teich geheftet, froh, von niemandem behelligt zu werden.
Eine dunkle Spiegelung am Rande ihres Sichtfelds erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie versteifte sich. Vorsichtig lugte sie unter dem Strohhut hervor – und blickte direkt in die Augen eines jungen Chinesen.
Gelassen lehnte er am Aufgang der Zierbrücke, keine zehn Schritte entfernt, und betrachtete sie. Leahs erster Impuls war Flucht, doch sie fühlte sich außerstande, die Beine zu bewegen, als hätte der junge Mann sie auf den Platz gebannt. Trotz ihrer Angst vor Entdeckung war sie von seiner Erscheinung fasziniert. Er mochte kaum älter sein als sie, aber seine Haltung verriet unerschütterliches Selbstvertrauen, das durch die überaus kostbare Kleidung noch unterstrichen wurde. Über das Vorderteil seiner Seidenjacke wanden sich zwei Drachen in kunstvollem Tanz, umgeben von Flammen in allen Farben des Feuers. Sein Gesicht wirkte aristokratisch; feine Brauenbögen wölbten sich über die für einen Chinesen erstaunlich weit geöffneten Augen, sein Mund war groß und schön geschwungen.
Zögernd machte er einen Schritt auf sie zu. Leah wich zurück, und sofort blieb er stehen. »Wer sind Sie?«
Die Ansprache in Englisch löste den unerklärlichen Bann. Er hatte sie durchschaut! »Wa bue liao gai!«, rief sie ihm auf Hokkien zu, was so viel hieß wie: »Ich verstehe Sie nicht«, dann drehte sie sich um und stob davon. In ihrer wilden Flucht verlor sie eine von Lims Pantinen. Hastig schüttelte sie die zweite ab und rannte weiter, hinaus auf die Straße, nach Norden, zum Fluss. Ein grellfarbiger Löwe, der Pappmaché-Kopf eine Fratze aus Zähnen und Glotzaugen, tanzte durch die Gasse, versperrte ihr den Weg. Schrille Musik begleitete seine Kapriolen, Feuerwerk krachte in den Arkaden. Ein Grausen ergriff Leah, sie musste fort, schnell fort an einen sicheren Ort!
5
März 1857 , zwei Monate später
J ohanna stand am äußersten Ende des gemauerten Piers, der von der Esplanade aus ins Wasser ragte, und suchte mit wachsender Unruhe das Meer ab. Wie an jedem anderen Tag lagen Dutzende Schiffe aus aller Herren Länder vor Singapur auf Reede, aber sie hatte nur Augen für die auffällig getakelten Briggs. Vier oder fünf Zweimaster ankerten tatsächlich vor der Stadt, doch keiner war die
Albatros,
auf der sich Friedrich vor nunmehr drei Wochen in Hongkong eingeschifft hatte. Johanna gab sich Mühe, ihre Sorgen im Zaum zu halten. Im Gegensatz zu dem dampfbetriebenen
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