Die Insel der Orchideen
Postschiff, das die Strecke zwischen Hongkong und Singapur in nur sieben Tagen bewältigte, musste sich die
Albatros
ganz auf günstigen Wind verlassen. Wenn die Brigg heute nicht kam, dann kam sie eben morgen. Oder übermorgen.
»Puh, ist das heiß.« Mercy stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich schlage vor, wir fahren zurück und nehmen bei mir eine Erfrischung ein.«
»Wie du meinst.« Johanna kämpfte mit den Tränen.
»Ach, Herzchen. Das Leben spielt dir und deinen Lieben wirklich übel mit«, sagte die Freundin leise. »Dein Vater war ein wunderbarer Mann.«
Johannas Hals schnürte sich zu. Nach wie vor war es ihr unmöglich, an den Vater zu denken, ohne von Verzweiflung übermannt zu werden. Nachdem der erste Schock abgeebt war, hatte sie nächtelang schlaflos auf dem Bett gesessen und gegrübelt, wie es ohne das Einkommen des Vaters weitergehen sollte. Da die Mutter erneut einen Schwächeanfall erlitten hatte, lag die Verantwortung für den Uhldorffschen Haushalt vollständig in Johannas Händen. Sie bemühte sich, so umsichtig wie möglich zu wirtschaften, doch bei den hohen Preisen in Singapur schmolz das Vermögen in atemberaubendem Tempo dahin.
Johanna warf einen letzten Blick auf die Schiffe. Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis sie einen Teil ihrer Bürde auf Friedrichs starke Schultern laden konnte. Sie versuchte, ihn vor ihrem inneren Auge erstehen zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Je konzentrierter sie an ihn dachte, desto mehr verschwamm sein Bild. Mit einem Anflug von Scham wurde ihr bewusst, dass sie sich besser an die Hitze ihres Abschiedskusses erinnerte als an das Gesicht ihres Liebsten.
Hand in Hand gingen die Freundinnen zur Kutsche zurück. Johanna half Mercy hinein, blieb aber selbst draußen stehen. »Ich laufe«, sagte sie. »Ein wenig Bewegung wird mir guttun.«
»Bei der Hitze?«
»Es ist doch nicht weit. In einer halben Stunde bin ich zurück. Aber lass uns auf unserer Veranda sitzen, vielleicht kann ich Mutter überreden, sich zu uns zu gesellen.«
»Eine gute Idee. Das Überreden übernehme ich.« Mercy lehnte sich zurück und gab dem Kutscher ein Zeichen.
Das Pferd setzte sich in Bewegung. Johanna raffte ihren Rock und trat mit einem langen Schritt über die Kette, die den Rasen des Padang von der Esplanade trennte. In einiger Entfernung trotzte eine Gruppe junger Männer der prallen Sonne und nutzte den weiten Rasenplatz für ein fröhliches Kricketspiel.
Sie hatte den Padang etwa zur Hälfte überquert, als einer der Männer, begleitet von wilden Anfeuerungsrufen und Pfiffen, einem Ball nachjagte, der in hohem Bogen direkt auf sie zuflog. Sie wich aus. Der Mann war so auf den Ball fixiert, dass Johanna Gefahr lief, über den Haufen gerannt zu werden. Als der Ball an Höhe verlor, wagte der Mann einen Tigersprung, rutschte bäuchlings übers Gras und verfehlte ihn nur um wenige Zentimeter. Johanna konnte einen erschreckten Aufschrei nicht unterdrücken.
Der Mann drehte sich irritiert auf die Seite. Sie sah ihre Vermutung bestätigt, dass er sie in seinem Spieleifer nicht bemerkt hatte. Er rappelte sich auf, klopfte Erde und trockenes Gras von der Kleidung und verbeugte sich ungelenk. Dann weiteten sich seine Augen voller Erstaunen.
»Die wohlgeratene Miss Uhldorff!«
»Genau die, Mr Bowie.« Sie hielt ihm den Kricketball hin, der ihr nach seinem missglückten Fangversuch vor die Füße gerollt war. »Sie spielen Kricket? Bitte nehmen Sie es nicht übel, aber irgendwie passt es nicht zu Ihnen. Der Ball ist so klein, und Sie sind …« Die letzten Worte hatte Johanna nur noch gestottert. Wie konnte sie sich nur zu solch peinlichen Äußerungen hinreißen lassen?
Bowie schien ihre Verlegenheit nicht bemerkt zu haben, oder aber er fand nichts Peinliches in ihrem Benehmen. »Es ist ein netter Zeitvertreib am Wochenende. Irgendetwas muss ein Mann ja tun, um nicht einzurosten. Ich würde Rugby zwar vorziehen, aber es fehlt den meisten hier an Kampfbereitschaft. Muss an der ewigen Hitze liegen.« Er unterbrach sich und musterte Johanna mit zunehmender Bestürzung. »Sie sind in Trauer?«
»Mein Vater ist in China ermordet worden«, sagte sie schlicht.
Er starrte sie nur an und blieb auch stumm, als Johanna ihm die Umstände in kurzen Worten erzählte.
»Ich hatte keine Ahnung, da ich erst vorgestern aus Batavia zurückgekehrt bin«, sagte er. Seine sonst so lebhafte, beinahe herrische Stimme wirkte zaghaft. »Der Verlust Ihres Vaters muss Sie furchtbar getroffen
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