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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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tatsächlich kam die Menge ins Stocken. Jemand packte ihr Handgelenk. Sie versuchte, die Hand abzuschütteln, doch der Griff wurde nur noch fester.
    »Kommen Sie doch endlich.« Der Geschichtenerzähler! Er zerrte sie hinter sich her, das Äffchen, das längst wieder auf seiner Schulter saß, fletschte die Zähne, und irgendwann hatten sie die jungen Männer hinter sich gelassen. Endlich konnte Leah wieder klar denken. Entschlossen wehrte sie sich gegen den Griff des Mannes. Er ließ sie sofort los.
    »Was wollen Sie von mir?«, kreischte sie schrill. Ihre Nerven flatterten, die Angst hielt sie noch immer fest gepackt.
    »Ich will überhaupt nichts von Ihnen. Aber die jungen Männer hätten Sie in ihrer Aufregung glatt in Stücke gerissen. Es gibt nicht viele weiße Frauen in Singapur, schon gar nicht in diesem Viertel.« Er musterte sie nachdenklich. »Auch wenn Sie Hokkien sprechen und Ihre Kleidung den Schluss zulässt – ein Kuli sind Sie offensichtlich nicht. Eine Hafendirne aber auch nicht. Was machen Sie hier?« Er trat einen Schritt auf sie zu und sah ihr voll ins Gesicht. »Ich werde das Gefühl nicht los, Sie schon einmal gesehen zu haben.«
    »Ich kenne Sie aber nicht.« Nur langsam beruhigte sich Leahs Herzschlag. »Entschuldigen Sie, ich bin sehr aufgewühlt. Danke für die Rettung.« Sie entwand dem Äffchen ihren Hut, drehte sich auf dem Absatz um und stolperte davon, so schnell es die unbequemen Pantinen zuließen. Noch bevor sie die nächste Straßenkreuzung erreicht hatte, war der Geschichtenerzähler wieder neben ihr.
    »Jetzt weiß ich es wieder. Es ist viele Monate her. Sie begleiteten Ihren Vater und waren gekleidet wie eine feine Dame. Ich erinnere mich so gut, weil er sich in den Schmutz kniete, um einem Drachenjäger beizustehen.«
    Leahs Neugierde gewann die Oberhand über ihre abflauende Angst. Sie verlangsamte ihre Schritte. »Drachenjäger?«
    »Ein Opiumtrinker. Er hat den Drachen gejagt, so nennen wir es. Und ist daran gestorben. Ihr Vater hat viel Mitgefühl gezeigt.«
    Überrumpelt blieb Leah stehen. »Ja, so war mein Vater.« Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, der Schmerz und die Trauer, die sie begleiteten wie bösartige Hunde, machten sich bereit, erneut über sie herzufallen.
    »Welcher Teufel hat Sie geritten, allein hierherzukommen? Ihre Eltern werden es Ihnen kaum erlaubt haben.«
    Leah versteifte sich. Ihr Trotz kehrte zurück. »Ich brauche kein Kindermädchen.«
    »Nicht?« Ein feines Lächeln zog über sein Gesicht, amüsiert, aber nicht herablassend. Der Mann war älter, als sie aufgrund seiner lebendigen Vorführung vermutet hatte, bald so alt wie ihr Vater. Falten umgaben seine Augen wie ein Strahlenkranz, seine Stirn glänzte haarlos, dafür wuchs ihm ein dünner Kinnbart. Sein sehniger, dürrer Hals schien ungeeignet, den Kopf zu tragen, und als er den Mund öffnete, sah sie vom Betelkauen dunkelrot gefärbte Zähne. Er verzwirbelte die wenigen Haare seines Bartes und kämmte sie mit seinen langen Fingernägeln wieder aus, bevor er weitersprach. »Warum hintergehen Sie Ihren Vater?«
    »Mein Vater ist auf dem Perlfluss ermordet worden. Von chinesischen Soldaten«, sagte sie leise.
    Der Geschichtenerzähler schwieg lange, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen. Sie erwiderte seinen Blick, wollte sich um keinen Preis der Welt einschüchtern lassen.
    »Sie fühlen sich allein«, sagte der Mann schließlich. Wärme und Mitgefühl schwangen in seiner Stimme. »Warum suchen Sie Ihren Vater ausgerechnet hier bei uns, bei den Chinesen?«
    »Weil er in unserem Haus nicht ist.« Leah hämmerte sich zornig mit den Fäusten auf den Oberschenkel. Sie genoss den Schmerz, lenkte er doch von dem anderen Schmerz ab, der sich seit Wochen durch ihre Eingeweide wühlte.
    »Sie wissen, dass Sie nicht wiederkommen dürfen? Jedenfalls nicht allein.«
    »Ich werde wiederkommen.«
    Er seufzte. »Jede andere Antwort hätte ich Ihnen auch nicht geglaubt«, sagte er. »Folgen Sie mir. Ich zeige Ihnen, wo ich wohne. Sie können sich immer an mich wenden oder nach mir fragen. Mein Name ist Koh Kok.«
    »Warum sollte ich Ihnen vertrauen?«
    Er lächelte. »Weil Sie es im Grunde Ihres Herzens wollen.«
    * * *
    Der März ging vorüber, der April, der Mai, der Juni und der Juli. Noch immer lenkte Johanna jeden Morgen ihre Schritte zum Wasser. Über den Verbleib der
Albatros
kursierten Gerüchte; ein Opfer des Sturms, sagten die einen, von Piraten aufgebracht, mutmaßten andere. Gab es

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