Die Insel der Orchideen
Vergeblich griffen seine Hände nach Halt, dann rutschte er durch die vom Mast geschlagene Bresche in der Reling und verschwand in der brodelnden Hölle unter ihnen. Friedrich starrte entsetzt auf die Stelle, wo eben noch ein Mensch seine Freude über die nahende Rettung in den Sturm gebrüllt hatte. Ein verzweifelter Aufschrei entrang sich seiner Brust: Ein Riff hatte die
Albatros
mit seinen scharfkantigen Felsenzähnen gepackt und würde sie nicht mehr hergeben.
In der Nacht rückten sie eng zusammen, hingekauert auf dem schiefen Deck unter zerborstenen Wänden und Planken, die ein wenig Schutz vor den Elementen boten. Schon seit Tagen hatte keiner der Männer mehr einen trockenen Faden am Leib, sie froren, und in ihren Eingeweiden wühlte der Hunger.
Friedrich rannen unaufhörlich Tränen die Wangen hinunter, und jetzt schämte er sich nicht mehr. Er war zu Tode erschöpft, doch ebenso wenig wie die anderen Männer wagte er es, die Augen zu schließen, lauschte stattdessen voller Entsetzen dem Todeskampf des Schiffes, konnte doch jeder Knall, jedes Ächzen in der Schiffswand das erste Zeichen für den Untergang und sicheren Tod bedeuten. Der Matrose neben ihm, ein junger Brite, begann, laut zu beten. Friedrich wollte in das Gebet einstimmen, doch dann sah er Johanna vor sich, das Strahlen auf ihrem Gesicht am Tag der Verlobung, und eine unbändige Wut erfasste ihn. Gott kannte keine Gnade. Hatte er nichts Besseres zu tun, als ihm und Johanna die Zukunft zu stehlen? Zornig ballte er seine zerschundenen Hände zu Fäusten. Sollte er diese Tortur lebend überstehen, dann sicher nicht, weil ein gütiger Gott seine Hand über ihn gehalten hatte.
In der zweiten Hälfte der Nacht schwächte der Sturm endlich ab, bis der Wind schließlich ganz einschlief. Der nächste Morgen verhöhnte sie mit wolkenlosem Himmel und einer Meeresoberfläche so glatt wie Glas.
Eine erste Inspektion des Schiffes ließ ihre Lage hoffnungsvoll erscheinen. Die
Albatros
lag mit enormer Schlagseite auf einem einer kleinen Insel vorgelagerten Korallenriff. Obwohl sie leckgeschlagen war, stand sie nicht in Gefahr zu sinken; zu fest hatte sie sich verkeilt. Nur ein weiterer Sturm wäre in der Lage, sie aus ihrem Korallenbett zu heben, doch dann würden sie längst vom Schiff hinunter und in Sicherheit sein. Keine zwei Seemeilen entfernt erhob sich verheißungsvoll ein grünbewaldeter Berg aus dem türkisblauen Wasser. Da eines der Beiboote unwiderruflich zerstört war, würden mindestens drei Fahrten notwendig sein, um alle Männer, Werkzeuge und Waffen und vorsichtshalber auch den restlichen Proviant an Land zu bringen.
Mit neuem Lebensmut packte Friedrich an, als das Boot erstmals ausgerüstet wurde. Der Kapitän führte, begleitet von den stärksten Matrosen, die Expedition an. Sie nahmen die meisten Waffen mit, denn es war nicht auszuschließen, dass die Einwohner, sollten sie auf welche treffen, ihnen feindlich gesinnt waren. Mit angehaltenem Atem verfolgte Friedrich die waghalsigen Manöver des Beiboots durch die um das Riff tobende Gischt, dann kämpfte sich das Boot frei und nahm unter dem Jubel aller Kurs auf die Insel.
Den Tag über sammelten die auf dem Schiff Verbliebenen alles Nützliche zusammen, dann gab es nichts mehr zu tun, als auf die Rückkehr des Kapitäns zu warten. Ein Matrose erklomm den letzten intakten Mast und hielt Ausschau. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb er stumm, und auch der folgende Tag brachte keinen erlösenden Ausruf. Immer wieder suchte Friedrich die Lagune ab, doch nichts regte sich. Unruhe erfasste ihn.
Am zweiten Morgen nach dem Aufbruch des Kapitäns mochte der erste Offizier nicht mehr länger warten und veranlasste den Bau eines Floßes aus Teilen des zersplitterten Deckaufbaus. In niedergedrückter Stimmung machten sich die Männer an die Arbeit. Wenn Friedrich in ihre angespannten Gesichter sah, fand er dort seine eigenen Sorgen widergespiegelt. Schon tuschelten die Matrosen über Piraten und Kannibalen, bis der erste Offizier ihnen den Mund verbot.
Am Nachmittag war das Floß fertiggestellt und zu Wasser gelassen. Der erste Offizier wollte keine Zeit mehr vergeuden, sondern dem Kapitän zu Hilfe eilen, wenn es nicht längst zu spät war. Im Schutz der Dunkelheit sollte es ihnen gelingen, ungesehen anzulanden. Wieder stand Friedrich auf dem schiefen Deck des Schiffs und versuchte, das Floß durch pure Kraft der Gedanken über die gefährliche Riffkante zu lotsen. Es misslang.
Wie aus einer
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